Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
Vom Netzwerk:
groß waren, Paul musste also von einem weiteren unschönen Fund ausgehen.
    »Guten Tag«, sagte Ohlrogge. »Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass wir noch einen Reichsbauernführer gefunden haben. Das war der Nachfolger vom ersten, ich werde das noch genauer untersuchen lassen. Hier liegt ja wohl die gesamte Führung der nationalsozialistischen Agrarwirtschaft verbuddelt! Jeden NS-Verbrecher, der Worpsweder Boden betrat, holen wir hier jetzt aus dem Garten raus! Es geht um Aufklärung. Mein Assistent macht gerade ein paar Fotoaufnahmen. Ich brauchte jetzt einen Schaber. Haben Sie zufällig einen Schaber, Herr Wendland-Kück?«, er versuchte wirklich einen sachlichen, wissenschaftlichen Ton zu wählen, so als habe er eine historische Ausgrabung zu bewerten, am liebsten hätte er allerdings mit dem Fuß gegen den Kück-Sockel getreten.
    »Einen Schaber ...?«, wiederholte Paul leise. Woher wusste der seinen ganzen Namen und wer sein Vater war?, dachte er. Und warum zum Teufel stand da wieder ein neuer Bauernführer? Kaum war der eine weggeschafft, stieg schon der Nachfolger aus dem Sumpf?
    »Das darf ja wohl nicht wahr sein, Ihr Assistent ...?«, fragte Paul. »Jetzt kommen Sie also schon mit Assistenten in unseren Garten?«, er spürte, wie sich der Schock, dass wieder einer dieser Gussmenschen aus der Tiefe aufgetaucht war, mehr und mehr in Wut verwandelte. Was diesem Typen überhaupt einfiel! Im Morgengrauen hier einzudringen und dann einen Privatgarten umzupflügen, während der Besitzer schlief! Erst die »Straße der Barbaren« und der »Bunker von Valentin«, jetzt der »Garten von Paul Kück«, vielleicht fiel ja wieder ein Preis für Heimatforschung dabei ab! In Pauls Kopf ergab nun alles ein klares Muster: Bremer Studentenführer, Nacktbaden im Werdersee, Revolution, danach Professor, Interviews geben, Preise bekommen plus lebenslange Beamtenrente und jetzt immer noch schön mit Assistenten herumforschen und staatliche Hochschulgelder beanspruchen! Schon beim ersten Mal hatte er von seinem »Lexikon« und den »niedersächsischen Gedenkstätten« gesprochen wie von einem Egotrip! Ich werde darlegen das ... Ich werde darlegen dies ... Nicht die Sache, die Norddeutsche Kunst zwischen 1933 und 1945 stand im Vordergrund, sondern ICH, also er. Er schob sich geradezu vor die Sache. Er benutzte die Sache, er benutzte die Kunst in einer schwierigen Zeit, er benutzte die niedersächsischen Gedenkstätten und er benutzte sogar den Nationalsozialismus. Er warb durch den Nationalsozialismus hindurch für sich, wie pervers. Natürlich wollte er Preise, Publikationen, Interviews, Werbung, Forschungsgelder. Weitermachen, immer weitermachen, bloß nicht aus dem Bild gehen!
    »Kann ich mal Ihre Befugnis sehen?«, fragte Paul verächtlich.
    »Wäre es nicht angebrachter, Sie würden uns erst einmal einen Kaffee servieren?«, antwortete Ohlrogge, erneut darauf achtend, einen möglichst ruhigen Ton zu treffen. »Wir haben ja schon seit halb fünf in der Früh gearbeitet.«
    Bäumer hatte unterdessen sein Handy aufgeklappt und versuchte, das Unternehmen zu erreichen, mit dem sie einen Abtransport vereinbart hatten, falls sie fündig werden würden. Im Hintergrund hörte man einen dumpfen Knall, als Brünings Abrisswerkzeuge durch die Wände des Hauses schlugen.
    Kaffee ... ?!, dachte Paul, soll das ein Witz sein? Verlangte dieses Arschloch gerade ernsthaft nach einem Kaffee oder war das ein Spaß, ein lockerer Spruch aus dem Fundus von '68?
    »Wollen Sie auch Zucker?«, fragte Paul, bemüht, seiner aggressiven Tonlage eine Spur von Ironie zu unterlegen.
    »Ohne alles bitte«, erklärte Ohlrogge und konnte Pauls Blick nicht standhalten. Er sah stattdessen angespannt zu Bäumer, der immer noch wartete, dass bei der Spedition jemand ans Telefon ging.
    »Geht's nicht ein bisschen schneller, du Idiot?«, herrschte Ohlrogge den jungen Maler an. Er gab den ganzen Druck, den er verspürte, an Bäumer weiter, wie manchmal Männer im Auto, deren Ehefrauen auf sie einreden, bis sie irgendwann das Fenster aufdrehen und andere Verkehrsteilnehmer zusammenbrüllen.
    »Kaffee servieren die Kücks hier normalerweise Persönlichkeiten wie Willy Brandt und nicht irgendwelchen kriminellen Heimatforschern. Ich bitte Sie nun endlich zu verschwinden«, sagte Paul und umkrallte in seiner Hose den Schuppenschlüssel, bis ihm der Rost ins Fleisch schnitt. War es so, dachte er, dass er gerade seinen Großvater mit Zähnen gegen diesen Mann verteidigte?

Weitere Kostenlose Bücher