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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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Ging das, mit den Feinden von vorgestern die Feinde von gestern bekämpfen? Vielleicht war das Jahrhundert ja wirklich schwer zu verstehen.
    Ohlrogge dachte: Was für ein Charakter! Natürlich Herr W! Er stellte sich vor, Wendland würde jetzt vor ihm stehen, dieser Mann, der sich einfach alles nahm: Johanna, das Haus, Frau Schröter, die Galerie, ganz Worpswede, er ließ sich sogar als neuen Goya ausrufen, ohne schamrot dabei zu werden mit seinen lächerlichen Hasenmenschen. Das komplette Programm lief wieder lückenlos ab: Wie Johanna aus fremden Armen kommend im Garten eintrifft, wie sie innen glüht, aber ihn, Ohlrogge, im Eismantel abserviert! Wie ihr Vater seine Himmelbilder lächelnd zum Abtransport hinausträgt! Wie ihn dieser Vater vor der Worpsweder Gesellschaft mit einer Flinte über den Haufen schießt! Wie er sich fast verblutend nach Viehland hinter die Ortsgrenze schleppt und Johanna ins Haus geht, um sich von Herrn W schwängern zu lassen! Und dann steht plötzlich die Frucht dieses Verrats mit Johannas schönen Augen da und will ihn schon wieder aus dem Garten werfen, aus diesem Garten, für dessen verfluchte Skulpturenreinigung er auch noch ein halbes Leben lang hat zahlen und büßen müssen? Die ungeheuerliche Spezialpasten-Geschichte drohte schon wieder hochzukommen. Nein, dachte er, jetzt wird die gesamte Kückbande selbst aus dem Garten geworfen! Erst haben die Kücks ihn aus der Gesellschaft geworfen, nun wird er sie hinauswerfen und hier aufräumen und wer weiß was noch ausgraben! Und am Ende werden auch ohne Liste, Hamme-Nachrichten und Bürgermeister alle wissen, was für ein Mittäter, Despot und Lügner hier einmal gelebt hat mit seiner abhängigen, untreuen Tochter und der ganzen verlogenen Worpsweder Gesellschaft! Mein Gott, ermahnte er sich, sachlicher! Präsentiere dich insgesamt sachlicher, wissenschaftlicher: Distanzmantel und wissenschaftlich!
    Ohlrogge atmete durch und sagte: »Lassen Sie mich in Ruhe meine Arbeit tun. Hier geht es um mehr als um uns.«
    »Was wissen Sie schon von meinem Großvater?«, entgegnete Paul. »Merken Sie das denn nicht? Es geht nur um Sie! Wie Sie sich hier aufspielen und breitmachen!«
    »Ich grabe nur die Wahrheit aus!«, Ohlrogge riss dabei vor Hitze an den Druckknöpfen seiner Windjacke und sah von Bismarck über Brandt bis zu Luther, Ringo Starr und Napoleon. »Es ging noch nie um mich! Das ist ein total verlogener Angebergarten! Meinetwegen können die Kücks hier auch dem Papst Kaffee servieren!« Das mit dem wissenschaftlichen Distanzmantel funktionierte wirklich nicht. »Bleiben wir bei den nackten Tatsachen! Es geht um die HISTORISCHEN ZUSAMMENHÄNGE! Beim Nachbarn werden wir auch noch graben!«, schrie Ohlrogge.
    »Nackte Tatsachen ...?«, wiederholte Paul, das Aufreißen der Druckknöpfe hatte wie ein Maschinengewehr in seinen Ohren gerattert. NACKTE TATSACHEN, dachte er, was für ein generationstypischer Ausdruck, jetzt hau ich ihm gleich den Werdersee und die DUTSCHKESCHUHE um die Ohren.
    Ohlrogge hatte seinem Assistenten das Handy aus der Hand genommen und wartete selbst auf eine Antwort des Transport-Unternehmens.
    Paul sah in die unruhigen Augen des Mannes. Ihm schien es sogar so, als ob es vertraute Augen waren. Für einen Blick, in dem sie sich ohne Worte trafen, mochte er diese Augen. Doch dann wischte er die Empfindung weg. Wie konnte er Augen mögen, die nur kalt, einseitig, schematisch und zerstörerisch auf seinen Großvater sahen? Dieser Mann war unsensibel, trampelig, harsch, rechthaberisch, diktatorisch, militant, mit schießenden Druckknöpfen! Wieso durfte er sich mit einer Anklage, die ja nicht mal seine persönliche war, derartig breitmachen? War es überhaupt erlaubt, einfach in einen privaten Garten einzudringen, dort die Nordische Gesellschaft und die schrecklichen Namen vorzutragen und dann in den Eingeweiden einer Familie herumzustochern? Konnte man das: sich mit einer Liste und dem Abguss eines Bauernführers, den heute niemand mehr kannte, auf einen Toten stürzen? Mit einem winzigen Ausschnitt aus einem Leben das ganze andere, restliche Leben verunglimpfen, nicht nur das seines Großvaters, sondern auch das seiner Mutter und am Ende sogar sein eigenes, das Leben von Paul Wendland? Welches Recht hatte dieser Mann, sich auf Kosten seines Großvater zu profilieren, indem er mit einem einzigen spitzen Detail in ein vielschichtiges Leben stach?
    »Ich weiß ja, dass Sie ein großer Revolutionär sind, Dutschke, Ihre

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