Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Schuhe, alles ganz toll«, sagte Paul möglichst ruhig und sachlich, es ging nun darum, die Lebenslügen und die zusammengebastelte Welt solcher Männer mit Ironie und Spott zu unterlaufen. »Es gibt wohl nicht nur Führertassen, es gibt auch Revolutionsschuhe ...«
Ohlrogge sah ihn ratlos an. Was für Tassen und Schuhe?, dachte er, er musste jetzt erst einmal wieder in seinen Distanzmantel finden.
Paul spürte, dass der Mann gar nicht folgen konnte oder wollte, der hörte ja nicht einmal richtig zu. Man müsste solch hochmütige Menschen in die andere Zeit versetzen, um zu sehen, was sie für ihr Leben tun würden, dachte Paul.
»Na, endlich! Kommen Sie bitte in den Teufelsmoordamm 5! Aber nicht bei den Jahns einbiegen! Das Haus danach, ich warte!«, rief Ohlrogge in das Telefon. Er lächelte, es war wieder das Lächeln, das sich schon zu Beginn auf seinem Gesicht ausgebreitet hatte und das von einer solch kalten Rachsucht war, dass man es unmöglich für ein wirkliches Lächeln halten konnte.
Paul ging ins Haus zurück. Er konnte die Überheblichkeit, diesen grau melierten Hochmut, nicht mehr ertragen. Auch fühlte er sich machtlos. Er legte sich in sein Bett und zog die Decke über den Kopf.
Mutterwand
Paul lag schon eine Weile in seinem alten Hochbett, das immer wieder durch Brünings Einschlagen der Wände wackelte. Es war wie ein nach oben kriechendes Zittern, das sich an den Bettpfosten hoch bis zum Kopfkissen zog.
Er überlegte, ob er seine Mutter anrufen sollte, um von der nächsten Ausgrabung im Garten ihres Vaters zu berichten. Er dachte an das letzte Telefonat, in dem sie ihm mit dem Jahrhundert gekommen war und das vergangene Jahrhundert wie eine Barrikade vor sich und ihrer Vaterliebe aufgebaut hatte: Diese Zeit war nun einmal so gewesen und für jemanden wie ihren Sohn schwer zu verstehen, da konnte man noch so viel ausgraben und fragen. Halt die Klappe, hieß das im Klartext, kümmere dich lieber um die Gegenwart, hör dir meine Beschreibungen von den Naturereignissen auf Lanzarote an und geh, wenn du schon nicht hier bei mir bist und eine erfolgreiche Galerie gründest, wenigstens in der Hamme schwimmen, in unserem alten Urfluss, der absorbiert das Negative.
Paul machten diese Telefonate allmählich wahnsinnig. Wie gegen eine Mauer lief er gegen seine Mutter an. Wie gegen eine Mauer aus Ignoranz, Herrschaft und erdrückender Rede. Eine Mutterwand, die kein Sohn mit verkümmerten Widerstandskräften durchbrechen konnte - und jetzt stand auch noch ein unantastbares Jahrhundert davor.
Er setzte sich an Nullkücks Computer, schloss die Seite von landflirt.de und gab »Zweiter Reichsbauernminister« ein. Enter:
Herbert Ernst Backe (* 1. Mai 1896 in Batumi, Georgien; 13. April 1947 in Nürnberg), deutscher Politiker. Er war Reichsminister für Landwirtschaft und Ernährung in der Endphase des Dritten Reichs, SS Obergruppenführer im Rasse- und Siedlungshauptamt. Er folgte am 23. Mai 1942 Richard Walther Darre als zweiter Reichsbauernminister.
Da war also auch der Link zum Vorgänger, den sie in der Hamme versenkt hatten. Paul erinnerte sich: Den Link in die andere Richtung, zum Nachfolger, den hatte er sogar bemerkt, als ihm Nullkück die Seiten über den ersten Reichsbauernminister vorlegte. Aber wie hätte man ahnen sollen, dass gleich beide Links in den Garten führten?
Er suchte sofort beunruhigt nach weiteren Links: Hermann Göring konnte man noch anklicken. Heinrich Himmler oder Karl Dönitz (Nachfolger von Adolf Hitler). Oder das Wort Erzeugungsschlacht.
Er richtete seinen Blick nach draußen und betrachtete durch das Fenster den neuen Bronzemenschen. Diese schmalen Schultern, dieses schmale Gesicht mit dem dünnen Mund und den eng stehenden Augen. Die Bilder, die Paul vor sich auf dem Bildschirm sah, hatten eine bestechende Ähnlichkeit mit der Gestalt, die im Garten stand. Das war er. Mein Gott, dagegen sah der alte Bauernführer ja noch richtig sympathisch aus, dachte Paul, auch wenn diesmal der nervtötende Grußarm fehlte. Der Neue hatte die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, und es schien, als nehme er den Garten und die Gesellschaft der anderen historischen Männer zur Kenntnis. Seine Größe war allerdings absurd. Mindestens 2 Meter 30! Schon der Erste, den sie hier ausgegraben hatten, war weit über zwei Meter groß gewesen, so als hätte Pauls Großvater eine Basketballmannschaft verschwinden lassen.
Die führenden Nazis waren kleine Männer, dachte Paul, Adolf
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