Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Barbarossa und dann war er auch wieder beim Backe-Plan, bei der radikalen Aushungerungsstrategie gegen die russische Zivilbevölkerung, bei Mord und Elend und Führertreue bis in den Tod - Paul klickte und klickte und notierte die Fakten, mit denen er beim nächsten Telefonat gegen seine Mutter anrennen würde.
Wie seltsam so eine Beziehung war und was man als Sohn gegen seine Mutter alles auffahren musste! Er wollte jetzt sogar so etwas wie den Überfall auf die Sowjetunion gegen seine Mutter einsetzen, nur um sich als Sohn Gehör zu verschaffen.
Paul wurde von Klick zu Klick immer wütender. »Nordische Gesellschaft« tippte er wieder ein. Auch »Brodem des Moores«. Dann: »Mackensensohn«. »Rilketopf«. »Willy Brandt - Kück« ...
Irgendwann starrte er nur noch in sein Notizbuch und griff zum Telefon. Nun würde sie gleich nicht mehr über ihn hinweggehen mit ihrem Ton, ihren Anweisungen, ihrer Herrschaft!
Er wählte!
Plötzlich wackelte wieder das ganze Haus. Paul sah nach draußen. Immer noch dieser Mann im Garten! Er stand neben der neuen Skulptur, als gehörte alles hier nur ihm.
Paul ließ den Hörer fallen. Er ging mit schnellen Schritten in die Diele und nahm aus der Holzkiste in der Wäschekammer die geladene Pistole. Dann lief er auf den Mann im Garten zu.
Vierter Teil
Finale
Heller Schmerz
Kovacs Leute fuhren mit einem Berliner Kennzeichen die Einfahrt zu den Kücks herunter, und Paul fragte sich, wie lange er wohl schon im Moor war. Wie viel Zeit war denn vergangen?
»Branko«, sagte der eine: klein, Lederjacke, dunkle, freundliche, fast kindliche Augen. »Guten Tag. Ich bin Paul.« »Chef?«, fragte Branko. »Ja, Chef«, antwortete Paul. »Goran«, sagte der andere. Sie schüttelten sich die Hände. »Ihr seid also von Kovac?«
Beide nickten. Sie sahen auch ein bisschen aus wie Kovac, wie Brüder.
»Habt ihr es gut gefunden?«, fragte Paul.
»Gibt keine Schild, nur Wiese. Wiese. Alles Wiese«, stöhnte Goran.
»Arbeit, Arbeit«, sagte Goran und zog die Schiebetür vom Bus auf.
»Nein, wir beginnen morgen. Morgen früh Bohrungen und Beton«, erklärte Paul und merkte, dass Goran und Branko noch weniger Deutsch sprachen als Kovac. Hoffentlich ging das in der Zusammenarbeit mit Brüning gut.
Goran nahm ein Bild aus dem Bus, ein weiteres, dann noch eines: Farben, fliegende Körperteile, die unendlichen Serien vom blinden Maler, der nicht aufhören konnte, seine verunglückte Tochter zu malen. Der ganze Bus war beladen damit, mit einem seiner sinnlosesten Projekte. Wie ein Messer stachen die Bilder in Pauls Erfolgsträume. Er starrte in den Bus wie auf sein Berlinleben, das er geschönt und umgelogen hatte und das seine Mutter immer wieder herunterbrach auf ein gescheitertes Berlinleben, in dem weder der Beruf noch die Liebe, geschweige denn die Ernährung funktionierten.
Goran hielt ihm einen Halmer hin, an den er sich erinnerte: Die Arme der Tochter schwebten über dem Kopf und zeigten in ein Licht.
»Kovac voll«, erklärte Branko.
»Kunst, wohin? Muss Platz für Autos!«, fügte Goran hinzu.
»Schon gut. Die kommen in die Scheune. Morgen. Morgen laden wir aus«, sagte Paul.
Die Worpsweder Jugendherberge lag auf dem Weg zum Fluss, am Hammeweg. 1938 hatten dort die Geschwister Scholl übernachtet, Paul wusste das noch aus der Grundschule, seine Lehrerin hatte sogar erzählt, sie sei mit den Geschwistern Scholl Tee trinken gegangen, zu Martha Vogeler, die nicht weit entfernt von Pauls Familie wohnte, im Haus im Schluh. Dort traf sich im Mai 1943 die Widerstandsgruppe »Weiße Rose«, bis die Gestapo den Unterschlupf entdeckte.
»Berühmtes Hotel«, sagte Paul, als er mit Goran und Branko vor der Jugendherberge hielt. Sie vereinbarten, dass er mit dem Bus zurückfahren und die beiden morgen zur Arbeit abholen würde. Goran war sowieso der Meinung, dass es einfacher sei, in Berlin oder in Zagreb eine Straße zu finden als im Moor, wo es immer nur geradeaus ging und alles wie eine einzige Wiese aussah. Es lohne sich, noch ein bisschen am hiesigen Fluß spazieren zu gehen, sagte Paul. Er beschrieb Goran und Branko den Zauber der Hamme-Niederung und wünschte einen schönen Abend.
Er wollte gerade auf den Hammeweg abbiegen, als ihm das Arschloch mit dem Fahrrad die Vorfahrt nahm. Es fuhr so selbstverständlich durch die Gegend, als gehöre ihm das Teufelsmoor ganz allein. Typisch, dachte Paul, auf der Bremse stehend, während Kovacs Duftbaum hin- und herbaumelte. Dieses
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