Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Kriminalpolizei oder der Gestapo gehangen hatte?
Wo war er hier? Was sollte das alles??
Paul spürte, dass er kurz davor war, Atemprobleme zu bekommen wie beim Graben im Moor. Und wie das hier aussah! Kistenberge, schimmelige Flaschen, vertrocknete Pflanzen, Müll. Durch das Zimmer verteilte Feigen, Pflaumen, Fencheltee-Beutel, Müll. Paul sah auf eine Rechnung, Stadtwerke Osterholz, Strom: »Peter Ohlrogge«. Eine für Telefon: »Peter Ohlrogge«. Sparkassen-Auszüge: »Peter Ohlrogge«. Überweisung in die Internisten-Praxis: »Peter Ohlrogge«. Überall an die Wände gelehnte Leinwände. Leinwände im Zimmer. Im Bad. In der Küche. Alle mit der Bildfläche nach hinten. Paul drehte eine um.
Ihn traf fast der Schlag. Der Himmel. Dieser Himmel! Wie in seinem Kinderzimmer. Er drehte eine zweite Leinwand um: Himmel. Eine dritte: Himmel. Die nächste: Himmel. Er lief wie im Fieber durch den Raum, fiel über eine der Kisten, saß daneben, griff hinein: ein uralter Rasierapparat, ein steinhartes Lebkuchenherz, Bremer Freimarkt, Zuckergusszeile »Du bist mein Stern«, es klemmte in einer Moulinex-Maschine. Ein rotes Kartonstück, Aufschrift Mensch. Dann: Eine angebrochene, klebrige Flasche mit Weleda-Hustensaft, der sich in der Flasche nicht mehr bewegte, hart geworden war. Genau so einen ... dieser Hustensaft ... den musste ich als Kind auch immer ... dachte Paul. Noch so eine längliche Pistole, auf dem braunen Holzschaft stand »Napoleon«, der Schlaghahn schien schon wieder ...Träumte er? Und wieso jetzt genau so einen Hustensaft, den er früher ...? Gab es das, dass man über dreißig Jahre lang ... und dann in einem Bruchteil ahnte, fühlte, warum einen der Vater nie ...? Vielleicht weil er gar nicht ...
Paul brach den Gedanken ab. Er setzte sich auf den Boden, zwischen die Kisten. Er spürte einen scharfen, hellen Schmerz, nach all den Jahren, in denen so etwas wie ein Schleier um seine frühesten Beziehungen gewesen war. Er dachte an den Tag mit Ulrich Wendland auf dem Weyerberg.
»Ist der Weyerberg auch ein Berg der Wahrheit?« »Ja, bestimmt.«
Er zog ihn mit hinauf und fragte oben: »Liebst du mich? Liebst du meine Mutter?«
Paul saß immer noch auf dem Boden. In der Hand der Hustensaft seiner Kindertage.
Großvater in der Scheune (Der Brief und Maries Tod)
Der neue Fund war weg, der zweite Reichsbauernführer nirgends mehr zu sehen.
Paul beobachtete Jan Brüning, der mit einem Bauplan durch den Garten lief, plötzlich stoppte und aus seinem Arbeitskittel einen Flachmann mit Kräuterbitter nahm.
»Dree Keerls hebbt de afhaalt«, sagte er, trank den Kräuterbitter in einem Zug aus und warf den leeren Flachmann in die Schubkarre.
»Wie bitte?«, fragte Paul.
»Die große Bronze, die da stand! Abgeholt!«
»Ich weiß«, sagte Paul, der Transporter mit dem neuen Reichsbauernführer war ihm sogar auf der Landstraße entgegengekommen.
»Spedition Schnaars, anständiger Betrieb!«, erläuterte Brüning, der von der Tragweite der Ausgrabung und des Abtransports keinen blassen Schimmer hatte.
Paul wunderte sich, dass er so ruhig blieb, jetzt, wo also die Geschichte außer Kontrolle geraten war. Aber vielleicht war auch ein weiterer Reichsbauernführer, den er nicht mehr unauffällig verschwinden lassen konnte, unwichtig, wenn er gerade das Gefühl hatte, sein ganzer Lebensgrund würde wanken und nachgeben.
Paul lehnte sich an die Marie-Skulptur und versuchte ruhig zu atmen.
Das Haus seiner Kindheit sah mittlerweile aus, als sei es beschossen oder bombardiert worden. Brüning und seine Mitarbeiter hatten fast alle Wände an den Giebel- und Längsseiten, unter denen gebohrt werden sollte, weggeschlagen und das Dach an einigen Stellen mit Stützvorrichtungen abgesichert.
Morgen würde man in die Erde bohren und dann die ersten Pfahlgründungen durchführen, erklärte Brüning und nahm den Vorschlaghammer, mit dem er die Restmauern entfernen wollte, aus der Schubkarre. Morgen komme es nun darauf an, den angemischten Beton zu gießen bis auf jenen roten Sand, der zehn, vielleicht fünfzehn Meter unter dem Moor lag und der den festen Grund gebildet hatte, lange vor der Eiszeit und lange bevor der Urstrom durch diese Tiefebene geflossen war - erklärte er noch und bekam beim »Urstrom« sogar einen Ton in die Stimme wie ein alter Märchenerzähler.
Paul lief in die Küche, er musste auch hier nicht einmal mehr die Tür nehmen. Er stand vor dem Telefon, um seine Mutter anzurufen, und zitterte. Er
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