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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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arrogante Verkehrsverhalten erinnerte ihn an Christina und ihre schöne Wut über die fahrradfahrenden Akademiker im Prenzlauer Berg in Berlin, die ihrer Meinung nach so fuhren, als gehörte der Osten nur ihnen.
    Er stellte den Motor aus und sah dem Mann hinterher, den er nur mit Gewalt aus dem Garten hatte vertreiben können. Ihm gingen noch einmal die Szenen durch den Kopf. Diese ganze Begegnung war nicht nur unangenehm gewesen, sie erschien ihm auch völlig überzogen. So hatte er sich noch nie in einen Kampf geworfen. Nicht mit seiner Mutter, nicht mit Christina oder anderen Frauen, nicht einmal mit seinem Vater, der ihn verlassen und aus Amerika nur noch Spielautos geschickt hatte. Es war, als sei er einer Aufforderung zum Duell nachgegangen: wie zwei Generations-Stiere, die in einem Garten aufeinander losgelassen wurden und sich die Geschichtsbrocken um die Hörner schlugen; wie zwei Geschichtskomödianten, die sich mit dem Schlamm der Zeiten bewarfen.
    Paul drehte den Zündschlüssel um und folgte dem Mann auf der Osterholzer Straße, Richtung Ritterhude.
    Von der Ortschaft »Viehland« hatte er noch nie etwas gehört. Er parkte in der Einfahrt zum »Wellbrock-Hof« und beobachtete ein winziges quadratisches Haus, das aussah wie ein roter Backsteinwürfel auf einer Wiese.
    Im Autoradio lief ein Bericht aus Los Angeles über das Simon-Wiesenthal-Center, das eine Spur von einem KZ-Arzt verfolgte, der in Argentinien gesehen worden war. Paul hörte die Tochter, die behauptete, sie würde ihren Vater nicht kennen und wisse nicht, wo er sei. Der Anwalt, der für den KZ-Arzt die Mieteinnahmen aus Immobilien weiterleitete, wusste auch nichts.
    Paul dachte, dass man natürlich immer auf der Seite der Jäger sein müsste, aber war es nicht übertrieben und maßlos, seinen Großvater zu jagen? Keinen KZ-Arzt, sondern einen Bildhauer mit bäurischer Herkunft, dem vielleicht keine andere Wahl geblieben war? Der sich aber als Künstler offensichtlich verweigerte, indem er Monstren schuf, riesige Bauernminister als monströse Überzeichnungen? Vielleicht war sein Großvater auch ein Verirrter gewesen, der sich verführen ließ wie die meisten anderen in Worpswede? Und später aus lauter Scham seinen Garten vollstellte mit Skulpturen von Sozialdemokraten, Humanisten, sogar Juden und einer Kommunistin aus der eigenen Familie?
    Wie seltsam das war: Gegen seine Mutter rannte er mit dem Großvater an, aber wenn es gegen dieses Arschloch von Dr. Rudolph ging, da war er ein Kück-Abkömmling, eine von den Puppen, die er als Kind auseinandergeschachtelt und in denen er immer noch kleinere Puppen gefunden hatte, die mit ein und denselben Augen in die Welt sahen.
    Im Radio lief schon der nächste Bericht, er befasste sich mit einem Chirurgen in München, der seinen Job verloren hatte, Hartz-IV-Unterstützung bekam und ohne Zulassung Frauen zu Hause die Brust vergrößerte. Zwischen dem KZ-Arzt in Argentinien und dem arbeitslosen Brust-Vergrößerer in München lief Werbung für WC-Reiniger. Die Übergänge von einem zum anderen sind unerträglich, dachte Paul und schaltete aus.
    Er stieg aus dem Kovac-Bus, näherte sich dem roten Würfelhaus, in dem der Mann verschwunden war, und versteckte sich hinter einem Baum. War das eine Art Landhäuschen? Oder lebte der hier? Bei Dr. Rudolph hatte sich Paul eher eine geräumige Eigentumswohnung vorgestellt, am Osterdeich, in den Achtzigerjahren erworben, vielleicht in der Nähe von seinem Dutschke-See von 1968.
    Ein Mann mit Staffelei und Pinseln, die aus einem Rucksack ragten, trat vor die Tür. Er stieg auf das Fahrrad und fuhr erneut in Richtung Worpswede. Paul war sich sicher: Das war er. Da gab es überhaupt keinen Zweifel.
    Oh, wie schrecklich, der malt auch, flüsterte Paul vor sich hin und wartete, bis er in der Ferne nur noch einen kleinen Punkt erkennen konnte.
    Die Tür war nicht abgeschlossen. Er öffnete sie, vorsichtig. Für den Fall, dass jemand im Haus war, würde er sich als Tourist ausgeben und nach dem Weg in die Künstlerkolonie fragen.
    »Hallo?«
    Keine Antwort.
    »Ist da jemand?« Er hörte nichts und trat ein. Hinter ihm knallte die Tür ins Schloß. Er drehte sich um, kreidebleich.
    Paul stockte der Atem. Er ging zögerlich auf den Schreibtisch zu, den Blick bewegungslos auf das Foto darüber geheftet. Dieser Mann, diese braunen Locken, dieses schmale Gesicht! Das war doch nicht möglich? Der sah doch aus wie er selbst! Er hielt seine Mutter im Arm, aber seine Mutter

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