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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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war jung, höchstens Mitte zwanzig! Langes dunkles Haar, wunderschön, kornblumenblaues Flatterkleid. Es war eindeutig seine Mutter! Sie band sich gerade einen Zopf, ihr Haarband im Mund, Blick in die Kamera. So konnte nur seine Mutter gucken: königlich, auserwählt, wie eine Moorprinzessin. Im Hintergrund waren die Wiesen zu erkennen, der Garten, der Tisch mit dem Butterkuchen! Aber warum hing diese Aufnahme in diesem Haus? Und wieso sah er aus wie der Freund seiner eigenen Mutter?! Paul wurde übel.
    Er suchte das Bad. Er ließ kaltes Wasser über seine Hände laufen, wusch sein Gesicht. Er blickte in den Spiegel, erschrak vor seinen eigenen Gedanken. Wenn er auf dem Schwarz-Weiß-Foto wie ein Geliebter den Arm um seine Mutter legte, dann müsste er doch jetzt einen etwa 70-jährigen Mann im Spiegel sehen?
    Paul zitterte.
    Er ging zurück zu dem Foto. Er konnte sich nicht an die Jacke erinnern, die er auf dem Bild trug. Helle Jacke mit rotem Sticker? Er stand eine Weile da und versuchte sich an alle Jacken seines Lebens zu erinnern. Und wenn es gar nicht seine Jacke war?
    Er sah auf den Tisch. Ausgeschnittene Zeitungsberichte: der schöne über seinen Jahrhundert-Großvater. Auch der schlechte über die Ausgrabung. Weitere kleinere Büchlein über Worpswede, über Mackensen, die Modersohns. Eine Dienstmarke, Kupfer, rund. Paul nahm sie in die Hand: Gemeinde-Kriminalpolizei war eingeprägt, mit Nummer. Er steckte sie in die Tasche.
    Er starrte wieder auf das Foto. Das kann ich nicht sein, dachte er, das geht doch gar nicht: ein richtiger Mann mit einer verdrängten Jacke neben meiner blühenden Mutter?? »Zurück in die Zukunft« kam ihm in den Sinn, Marty McFly, der mit einem Fluxkompensator in die Jugend seiner Mutter reist, die sich dann in ihren Sohn verliebt - aber das war ja sowieso bei fast allen Müttern der Fall, alle Mütter liebten ihre Söhne auf eine ganz zeitvergessene Art, da brauchte man überhaupt keinen Fluxkompensator.
    Paul nahm das Foto mit seiner knackigen Mutter von der Wand und drehte es um: »Frühjahr '67«. Er versuchte es wieder mit der Reißzwecke anzubringen, dabei riss er mit dem Arm einen Papierbogen von der Wand:
     
    Paul Kück behauptet: Marie 1944 von Gestapo abgeholt. Aber WOHIN gebracht?? KZ-Recherche! Überall nachfragen!!! Wenn, dann muss es Akten geben. Und wenn Marie in keinen Akten auftaucht, GRABE ICH HINTER ODER UNTER DER SEELENSCHEUNE!!!
     
    Jetzt ging das hier auch noch mit der alten Scheune und den Seelen los! Er sah auf weitere Papierbögen, die über die ganze Wand angebracht waren:
     
    KZ Ravensbrück bei Berlin? (Alle Frauen kamen dorthin) Archiv anrufen!! Telefon: 033093-608-0.
     
    KZ Ravensbrück? Mit Telefonnummer? Die Vorstellung, dass man wegen seiner Familie in einem KZ-Archiv anrief- sie verließ den Bereich der Bücher und Filme, durch die Paul bisher mit so etwas in Berührung gekommen war.
     
    Keine Marie Kück in Ravensbrück registriert!! (Auskunft von Frau Hunderttnark!)
    Also: - Lebt Marie noch?? (Anrufen: Deutsches Rotes Kreuz, Suchdienst, Herr Rehberg 089-6807730! Oder den internationalen Suchdienst Bad Arolsen!)
        Wurde sie auf andere Art beseitigt? (Wenn ja: Wie?? Und
    warum??)
    - - WAS HAT PAUL KÜCK DAMIT ZUTUN?!?
     
    Die Aufzeichnungen kamen ihm vor wie seine eigenen Kück-Gleichungen, die er als Kind aufgestellt hatte, um das Rätsel um Nullkück zu lösen und Ordnung in das Leben zu bringen. Auf einem Papierbogen stand:
     
    Kripo-Auto bei Kücks gesehen (April 1945, Zeuge: Nachbar Jahn) Jahn hat Polizeidienstmarke hinter Scheune gefunden!!!
     
    Das nächste Blatt an der Wand war überschrieben mit »Gespräch im Garten 1967«:
     
    Ich fragte: Herr Kück, was ist mit diesem Auto, das Sie hier gefunden haben? Ist das nun von der Kriminalpolizei, der Gestapo oder den englischen Truppen? PAUL KÜCK LIESS DEN BUTTERKUCHEN FALLEN UND SCHAUTE MICH AN WIE DER TOD! Ich fragte weiter: Haben Sie denn das ganze Auto auseinandergebaut? Im Schrank ist die Achse, und wo ist der Rest?
     
    Der Schrank, sagte Paul vor sich hin, mein Schrank! Da war die Rede von seinem Geburtsschrank, dem Eichenschrank mit der Stange, an der seine Mutter ihn wegen der Beckenfreiheit zur Welt gebracht hatte. Vorderachse englischer Truppen, hatte sein Großvater gesagt. Aber was bedeutete dieses »Gespräch im Garten 1967«? Woher kam denn nun diese Stange? Konnte es sein, dass seine Mutter während seiner Geburt in archaischer Gebärhaltung an einem Teil von der

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