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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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wusste nicht, wie er fragen sollte. Ein heller Schmerz, der durch frühe Schleier stach - wie sollte man da fragen? Das kleine rote Haus? Das Foto? Der Mann, der aussah wie er selbst, im Hintergrund der Butterkuchen? Und warum überall an den Wänden die Kindheitsfragen: Marie, Scheune, Seelen, Gestapo, Kripo, Jahn, Auto, Stange, Geburtsschrank?
    Er lehnte mit dem Telefonhörer am Kühlschrank, auf dem früher sein Hustensaft gestanden hatte.
    Vielleicht würde er einfach so fragen: Wer war der Mann im Garten im Frühjahr '67?
    Er setzte sich an den Küchentisch. Der Buchweizenteig war hart geworden. Nullkück, wo war der eigentlich?
    Paul lief durch die Räume, die Diele. Das Haus war kein Haus mehr ohne die Wände, es bot keinen Schutz und keinen Rückzug mehr. In Nullkücks Zimmer flimmerte auf dem Bildschirm noch die Seite mit dem Überfall auf die Sowjetunion.
    Paul lief weiter in den Garten. Er war erleichtert, weg vom Telefon zu sein, weg von der Frage, die er irgendwann stellen musste und die den frühen Schleier so zerfetzen konnte, dass der Schmerz nicht mehr zu verhüllen war. Er rief Nullkücks Namen, rief noch einmal.
    Weinen.
    Paul rannte auf die Scheune zu. Er hörte ein jämmerliches Schluchzen, je näher er der Tür kam, die offen stand.
    Nullkück saß in einem der alten Obstkörbe. Seine Tränen tropften auf den Brief, den Paul auf den Küchentisch gelegt und nicht mehr wiedergefunden hatte.
    Im Briefkopf war ein Park abgebildet und ein längliches Gebäude mit Turm. Darunter stand: »Psychiatrische Klinik Lübeck - Ratzeburger Allee 160«. Der Brief war in kleiner Druckschrift verfasst. Ein eng beschriebenes Blatt, so als habe sich jemand bemüht, alles auf eine Seite zu bekommen.
     
    Es war nicht einfach, aus meinen weißen Mauern wegzulaufen, die mich all die Jahre wenigstens betäubten mit ihren Gitterstäben vor dem Fenster. Ich lege heute diesen Brief in Maries Korb. Ich bin zurück in der alten Scheune. Mit dem Eisenschlüssel, der vorne in der Tür und nicht mehr in Vaters Hosentasche steckt - als sei nie etwas gewesen. Keiner durfte in die Scheune. Keiner durfte zu den großen Seelen, die hier lebendig wurden in der Dunkelheit. Tüchtig gab es Prügel, als ich an die Tür klopfte und mich der Vater in den Garten zog und gegen seine Skulpturen schlug. Stört sie nicht! Stört sie nicht, bis sie sich vollendet haben! // Hilde ging einmal, um Suppe hinzustellen. Ich folgte ihr. Versteckte mich mit Butterkuchen, den ich den Seelen geben wollte.
    Hörte, wie der Eisenschlüssel die Tür verschloss. // Marie stand plötzlich da. »Tante Marie«, rief ich, »Marie, bist du nicht abgeholt, hat man dich nicht abgeholt?« und hielt ihr den Kuchen hin. Sie umarmte, küsste mich und weinte. Ihr Bauch war dick, sie roch nach Schnaps. Ich müsse wieder raus, sagte sie, raus, raus, raus. Aber wie sollte ich? Sie nahm mich an die Hand, ich hörte eine Kette über den Boden schleifen. Sie legte mich ins Stroh und sagte: »Schlaf!« Leise sang sie, »Hinterm Weyerberg scheint der Mond hervor / Und der Nebel steigt aus dem Teufelsmoor ...« // Ich erwachte von der Kette und von Schatten, die über Wände eilten. Schlich mich hervor und da sah ich ihn. Er leuchtete mit der Taschenlampe ihren Körper ab, während er sie in den Obstkorb presste. »Schreist ja gar nicht heute!«, stöhnte Vater, »Bist schön still, wenn du trinkst!« Sie hatte sich ihre Hand in den Mund gesteckt und biss darauf, damit ich weiterschlief und nicht den Vater sah, der auf Marie zuckte wie ein Schwein, während die Kette rasselte. - Habe es heut gesehen, das Kind mit der Null ... Saß da ganz allein in diesem Haus und rührte in einem Topf herum. Kann froh sein, dass es lebt, weil Hilde keine Kinder kriegen konnte. Es war gerade auf der Welt, da trugen sie seine Mutter aus der Scheune. Sie lag wie tot in Vaters Armen. Man brachte sie in den Garten, an den Rand, dort wo hinter dem großen Graben das Moor beginnt. // Ich lege nun diesen Brief in Maries Korb, ich muss es endlich sagen. Manchmal versuche ich zu malen. Ja, ich bin Maler. Maler! Ich male es und alle meine Bilder heißen: Die Mutter backte, Tante Hilde schrie nach einem Kind und Marie lag tot in Vaters Armen ... Ich fahre jetzt zurück nach Lübeck. Ich bin krank. Ich weiß nicht, was die Wahrheit ist. Es war Nacht und der Mond schien in den Garten und in das Teufelsmoor. //R.H.H., Februar 1989.
     
    Paul hielt regungslos den Brief seines Onkels in der Hand und starrte

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