Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
auf den Lübecker Turm.
Das Kind mit der Null hatte sich am Abend mit Cordhose, Hemd und Gummistiefeln hingelegt und starrte durch die eingeschlagenen Wände nach draußen, in die Wolken. Überall war Staub, in seinem Bett, auf seinen Zinnsoldaten, den Schallplatten und den alten Tonkrügen mit den verblichenen Kornblumen. Nicht einmal seinen Computer hatte Nullkück ausgeschaltet und abgedeckt. Er war immer noch online und seine Frauen warteten unter dem Staub auf Antworten.
»Du kannst hier nicht schlafen. Das wird zu kalt in der Nacht«, sagte Paul.
Am Kopfende des Bettes lag das Foto von Hilde. Nullkück hatte es zerrissen, in viele kleine Teile. Ein Stück mit Hildes traurigen Augen war auf den Boden gefallen. Ohne Gesicht sah es aus wie ein tiefer, dunkler Brunnen, in den man niemals hineinfallen durfte. Der Bilderrahmen war zerschlagen.
»Möchtest du bei mir im Zimmer schlafen?«, fragte Paul. »Ich habe ja noch Wände. Bei mir steht die alte Eiche vor dem Fenster. Da sind überall Wurzeln, da kann man ja nicht bohren, weißt du?«
Keine Antwort.
»Lieber Nullkück, Onkel PHH lebt in einer Anstalt. Er ist krank. Es kann gut sein, dass das alles gar nicht stimmt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie deine Mutter ist.«
Nullkück hielt ihm ein zweites vergilbtes Papier hin, das der Onkel ebenfalls in der Scheune hinterlassen hatte.
Benachrichtigung für Sie nächsten Angehörigen von Gefallenen
Paul sah sich wieder auf dem Schulhof Malte Jahn gegenüber stehen, beide mit blutigen Kinderfäusten:
»Die Benachrichtigung für die nächsten Angehörigen von Gefallenen!«, schreit Malte, er hat es auswendig gelernt.
»Versteh ich nicht, du lügst!«, schreit Paul.
»Die haben nämlich bei uns geklingelt wegen dem Bildhauer-Schild, du dummer, krimineller Kück! Eure andere Tante habt ihr im Moor vergraben und die Polizei hat sie gesucht!«
In der Schlacht (Gefecht usw.) BEI CASSINO,
BERNHARDSTELLUNG... am ...19. 12. 1943... fiel Ihr ...MANN... (Sohn, Bruder usw.) ... HINRICH KÜCK ... im Kampf um die Freiheit Großdeutschlands in soldatischer Pflichterfüllung, getreu seinem Fahneneide für Führer, Volk und Vaterland. (»Hat nicht gelitten«, »Kopfschuß« usw.) Zugleich im Namen seiner Kameraden spreche ich Ihnen meine wärmste Anteilnahme aus. Die Kompanie ...HEERESGRUPPE C, 10. ARMEE, PANZERGRENADIERSDIVISION 129, VIERTE KOMPANIE... (usw.) wird Ihrem ...MANN... (Sohn, Bruder usw.) stets ein ehrendes Andenken bewahren und in ihm ein Vorbild sehen.
In aufrichtigem Mitgefühl grüße ich Sie mit Heil Hitler HAUPTMANN HANS DREXLER
Nullkück sah mit ängstlichen Augen vor sich hin. Sein Vater war zwei Jahre vor seiner Geburt gefallen. Die Harzreise, auf der er angeblich gezeugt worden war, hatte es nie gegeben. Da war Hinrich längst tot.
Der Onkel aus der Anstalt hatte noch ein Blatt angehängt, wieder mit seiner kleinen, fein säuberlichen Druckschrift:
Der Mann, der die Einfahrt herunterkam, gab sie mir. »Bist du ein Kück?« // »Ja«. // »Hier!« //Wie lang trug ich die Nachricht mit mir herum? Ich wollte nicht, dass Hilde auch noch davon getroffen wird. Da habe ich ihren Mann weiterleben lassen. // Ich hätte es ihr geben müssen. Ich wollt es auch. Später, als sie sich das Kind genommen hatte, das der Vater mit Marie ... da könnt ich nicht, wie sollte ich? Wäre nicht alles herausgekommen? Ich wollte, dass mich Vater liebt - Niemand hat sie abgeholt und umgebracht. Wir haben es selbst gemacht. Meine Mutter backte und hasste. Meine Tante schrie nach einem Kind. Und mein Vater ging in den Schuppen und gab Schnaps. // Geschwiegen haben alle. Geschwiegen habe ich. Ich habe sie auch umgebracht. // P.H.H., Februar 1989.
Ohlrogges verstopftes Leben
Ohlrogge saß am Abend vor seinem Haus und betrachtete die Kück-Skulptur, die er sich hatte liefern lassen und die vor dem kleinen Fenster stand, sodass er sie auch von drinnen beobachten konnte. Der Reichsbauernführer überragte das Haus, es ging ihm ungefähr bis zur Brust.
Endlich!, dachte Ohlrogge. Endlich hatte er die Lügen und die Vergangenheit aufgedeckt, ausgegraben und unter Kontrolle gebracht! Jetzt musste er nur noch das Beweisstück in die Künstlerkolonie transportieren und ausstellen! Paul Kück, der Künstler des Jahrhunderts, wäre erledigt und das verlogene Worpswede gleich mit, das offensichtlich glaubte, sich einen Scheißdreck darum scheren zu können, was einer in seinem Garten verbuddelte und
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