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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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auf welchen nordischen Listen er stand!
    Ohlrogge hatte die Kück-Skulptur sogar angekettet. Die Kette war am Sockel des Reichsbauernführers befestigt und führte stramm durch das Fenster bis in seine Wohnung und einmal um den linken Bettpfosten herum. Selbst wenn nachts jemand versuchen sollte, die Kette vom Sockel zu lösen, er würde es auch im Schlaf merken, sagte sich Ohlrogge. Die Kette würde scheppernd zu Boden fallen, das Bettgestell vibrieren und durch das abrupte Ende der Spannung das Bett einen Ruck machen. Auf jeden Fall würde er dadurch aufwachen und verhindern, dass die Vergangenheit und die Wahrheit verschwanden. Nein, er hatte die Wahrheit endgültig gesichert, die Wahrheit von Kück, die auch die Wahrheit von Worpswede war!
    Er saß da und wartete auf ein Gefühl der Genugtuung, das ihn befriedigte, das ihn erhob über all die menschliche Niedertracht, die er hatte erdulden müssen. Ja, er wartete auf das große Gefühl der Befreiung und je länger Ohlrogge neben der riesigen Kück-Skulptur saß, umso mehr spürte er, dass sich dieses Gefühl überhaupt nicht einstellen wollte und dass ihn nichts, aber auch gar nichts befriedigte und befreite. Wie konnte das sein?! Nun hatte er doch sein Recht, sogar sicher angekettet! Wieso kam denn jetzt, wo er recht hatte, das Elend doppelt über ihn?
    Er stellte sich vor, wie er am Tag der KDJ-Ausstellung die riesige Skulptur von der Spedition neben die Kunstschau befördern lässt und die Menschen stumm und teilnahmslos an ihr vorbei in die feierliche Eröffnung strömen. Wie er allein neben die gewaltige Kück-Skulptur tritt und einen toten Mann und ein Dorf zur Rechenschaft zieht. Wie er anklagend neben seinem großen Beweis steht, einem ausgegrabenen Reichsbauernführer, den niemand mehr kennt, wer hatte denn schon von Herbert Backe gehört, außer den neunzigjährigen Bauern von Worpswede? Wie dann seine alt gewordene Liebe an ihm vorbeikommt und er sagt: Johanna. Weißt du noch, wer ich bin? Schau mal, was dein Vater gemacht hat. Erkennst du jetzt endlich deinen Vater?
    Wie lächerlich.
    Und selbst, wenn alle stehen bleiben und ihm und der Wahrheit zuhören, was ändert das? Ja, was soll sich auf einmal ändern? Dass man sein Leben zurückspult? Die Worpsweder Gesellschaft vor ihm auf die Knie fällt? Abbitte leistet und sühnt? Seine Himmelbilder bei Schröter wieder aufhängt und ihn endlich mit William Turner vergleicht? Und diese verdammten »Hasenmenschen im Zeitalter der Angst«, die ja auch schon seit Ewigkeiten vergessen sind, nachträglich vom Goya-Sockel stößt?
    Ohlrogge saß vor seinem Haus und fühlte sich lächerlich. Er war ein lächerlicher Mensch. Ein Mann, der die Vergangenheit an das Bett kettete wie ein Tier anstatt sein eigenes Leben zu leben! Ein Mann, der mit seinem alten Hass und der Schuld, die er überall verteilte, so sehr in die Jahre gekommen war, dass er nun allein damit vor sich hin lebte. Was war gegen seine Gülleterrorfahrt von damals einzuwenden? Nichts! Er liebte. Er litt. Es war Leidenschaft. Auch die Sache mit Johanna in der Scheune. Im Haus konnte man keine Liebe machen! Entweder am Meer in den Dünen oder in der Scheune! Ja, das war Leidenschaft. Wie konnte sich Johanna danach von ihm trennen? Man trennte sich doch nicht wegen Leidenschaft in einer Scheune? Doch irgendwann war auch seine Liebe verblasst. Nur die Verbitterung, die war geblieben!
    In der vergangenen Nacht hatte er geträumt, dass er in der Hamme zu einem bunt geschmückten Kahn schwimmen will, aber seine Beine stecken im Moorschlamm fest. Aufgedunsene Kadaver, Kühe und Hasen treiben auf ihn zu, dazwischen Schuhe aus dem Reparaturgeschäft seiner Eltern in Lauenburg, auch Menschen, die er sein Leben lang gehasst hat, treiben von allen Seiten auf ihn zu: Erfolgskünstler, Touristen, Galeristen, die ihn nicht weiterschwimmen lassen. Als Letztes treibt ihm seine Therapiegruppe entgegen, Frau Bender und Gustav mit seinem irrsinnigen Gerede von der Würde des Menschen; dazu noch aufgedunsene Hobbymaler, die ihre braunen Borstenpinsel in seinen Mund stecken, bis er erstickt. Was für ein Alptraum!
    Ohlrogge dachte kurz und vielleicht ein Vierteljahrhundert zu spät: Und wenn er es hätte können ...? Wäre er dann leichter durch den Fluss gekommen, wenn er es hätte können ...verzeihen ...?
    Er ging ins Haus und starrte auf das Foto von Johanna mit Mann im Garten. Er hatte das Foto erst vor ein paar Tagen über dem Schreibtisch neben seinen

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