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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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Ermittlungslisten angebracht, nachdem er sich sicher gewesen war, dass es in seinen Kisten Fotos von einem Mann geben musste, der so aussah wie der junge Mann bei den Kücks im Garten.
    Es war Ohlrogge genau in dem Augenblick aufgefallen, als ihm der Wendland-Sohn eine der Pistolen entgegengestreckt hatte, mit denen er selbst damals in den Garten gekommen war, um seiner großen Leidenschaft Nachdruck zu verleihen und diesen Klein-Goya von Wendland im Duell zu erschießen, was im Nachhinein theatralisch erscheinen mochte, aber damals war es blutiger Ernst gewesen, Liebe eben, irrational, furchtbar in der Verzweiflung, mörderisch. Also: Der Wendland-Sohn hielt die Pistole auf ihn und Ohlrogge dachte wie vom Blitz getroffen: Diese Ähnlichkeit mit den Fotos in der Kiste! In einer seiner Kisten musste es ein Foto geben, von Wendland mit Johanna vor der Butterkuchentafel! Und als er das Foto vor ein paar Tagen in der letzten Kiste gefunden und »Frühjahr '67« auf der Rückseite gelesen hatte, da war ihm klar geworden: Wendland musste sich schon mit Johanna getroffen haben, als er, Ohlrogge, noch ihr offizieller Freund gewesen war! So war das also: Man wurde viel früher in der Liebe hintergangen, als man ahnte! Der andere hatte sich längst vor der Trennung ins Bild geschoben, sogar in den Garten war er schon eingedrungen! Und das Bild war dann versehentlich in den Trennungskisten gelandet, von Johanna einfach hineingeworfen, wie taktlos, wie widerlich! Jahrzehntelang hatte er ahnungslos mit diesem Wendland in der Kiste gelebt!
    Ohlrogge sah wieder auf das Foto. Aber das ist doch meine Jacke, sagte er sich. Die Jacke gehört doch mir! Wieso trägt der meine Jacke? Der nahm sich nicht nur Johanna, sondern auch noch meine Jacke!?
    Schon wieder einen Betrug entdeckt, dachte Ohlrogge: Nach 35 Jahren noch einen Betrug entdeckt! Überall kommt die Wahrheit hoch, aus dem Garten, aus den Kisten. Hört denn das nie auf?
    Er riss die Kiste mit den alten Klamotten auf, die er in seinem Johannaleben getragen hatte: alte Unterhosen, Hemden, mottige Pullover, einzelne Strümpfe, da war sie: Die Jacke! Die beigefarbene Jacke mit der aufgenähten Tasche und dem Mao-Abzeichen! Nicht dass es ihm um Mao gegangen wäre, auf der Welle war er damals nicht mitgeschwommen, es ging ihm um die Jacke, die Jacke war schön, die Tasche, der weite Kragen. Er zog sie an und stellte sich vor den Spiegel. Das Foto hielt er vergleichend daneben.
    Eindeutig dieselbe Jacke!, dachte Ohlrogge empört und verglich sein Spiegelbild ausführlich mit dem Foto an der Wand.
    Ohlrogge, sagte Ohlrogge nach einer Weile leise, Ohlrogge, das bist du selbst. Was geht denn in deinem Kopf vor? Du siehst auf ein altes Foto, erkennst deine Jacke, aber dich erkennst du nicht? Hast du schon so sehr den Mann von früher in dir verloren? Du siehst auf ein Foto von dir und denkst, es ist ein anderer, nur weil du glücklich aussiehst? Und Augen hast wie diese fremd gefickte Johannabrut aus dem verdammten Kückgarten? Und wenn sie gar nicht fremd ... sondern du, nicht er, nicht Wendland, sondern du, Ohlrogge, damals ...?
    So ein Quatsch, Johanna hätte doch ... Mein Gott, in was er sich alles hineinzusteigern vermochte! Ohlrogge, rief er, damit muss jetzt endlich einmal Schluss sein! Mit diesen Vergangenheitsgespenstern ist es ab sofort aus und vorbei!
    Er ging hinaus und sah wieder den riesigen Reichsbauernführer an, der über das Haus hinwegblickte nach Osten.
    Heute Abend, sagte er sich, heute Abend würde er in den Club gehen, egal ob es regnete oder nicht! Egal ob jemand diese verdammte, so mühselig ans Licht gebrachte und hierher geschleppte Wahrheit und Vergangenheit abtransportieren und verschwinden lassen würde! Er musste weg von diesen Gespenstern! Wieder ins Leben kommen!
    Heute Abend würde er sich, wenn die Parkinsons nicht wieder alles besetzten, zwei Frauen nehmen! Eine aus Asien, eine aus Lateinamerika, ja, er würde die Enge und den ganzen Vergangenheitsschlamm seines Lebens mit zwei Frauen aus zwei Kontinenten sprengen!
    Er schaltete eine CD mit Meditationen an, drehte laut auf und setzte sich nach draußen neben die Bronze. Die Meditationen tönten über die Wiesen, und die Kühe sahen herüber in der Abendsonne. Jedes Mal, wenn ein Auto auf der Schnellstraße vorbeiraste, wackelte die Hauswand, an der Ohlrogge lehnte und zuzuhören versuchte.
     

Schweigen (Muttertelefonat Nr. 6)
    Paul ließ den Hörer fallen und legte seinen Kopf auf den Küchentisch. Er

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