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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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sinnlosen Projekten, mit erfolglosen Malern, mit unpassenden Frauen. Ohne Salat und richtige Vitamine. Ohne Sonnenuntergänge auf Lanzarote. Ohne ihre neue Künstlerkolonie. Ohne ihre Seminare. Ohne sie! Und wie sie nun wieder über Tausende von Kilometern, über das Meer, die Wüste und Berge hinweg bis hier ins Moor hinein herrschte mit ihrem Schweigen, mit den Erklärungen, was ein falscher Tonfall war, und mit dem anschließenden Auflegen des Telefonhörers. Sie herrschte, und wenn man sie nicht herrschen ließ, entzog sie sich und legte auf. »Geh ran!«, rief er in den Hörer.
    Gleichzeitig stellte er sich seine Mutter vor, wie sie jetzt hilflos durch ihr Haus auf der Insel lief. Eine alte Herrscherin, die vielleicht wusste, dass sie ihr Vaterland nicht mehr lange halten konnte. Paul brach seine Wut wieder mit Rührung. Er musste nur aufbegehren, und schon kamen das schlechte Gewissen und die Bilder von der Mutter, die traurig war. Und so würde er sein ganzes Leben der ewige Sohn bleiben. Die einen vergruben ihre Geschichte, er vergrub jeden Tag seine Wut. Was sollte seine Mutter denn auch sagen: Ihr Vater ein Vergewaltiger? Ihre Mutter eine Mitwisserin? Ihr Bruder, ein Traumatisierter, ein Hin- und Hergeworfener zwischen Kunst und Bauerntum, zwischen Ruhm und festem Boden, fast wie Paul? Am Ende verrückt geworden, Tod durch einen Duschvorhang im Irrenhaus in Lübeck?
    Paul versank immer mehr in seiner mit traurigen Bildern und schlechtem Gewissen verrührten Mutterwut, als sie den Hörer abnahm.
    »Ja! Was willst du jetzt? «
    Er schwieg einen Moment.
    Dann sagte er: »Ich war in einem kleinen roten Haus, hinter Worpswede, bei einem Mann ... Da waren Fotos von dir und ihm im Garten ... « Er zögerte.
    »Ich höre!«, sagte sie streng.
    »Da stand auch mein Hustensaft von früher ...«
    »Ja, und?«
    »Schon gut«, sagte Paul leise.
     

Ohlrogge im Don-Camillo-Club (III)
    »Du kommst ja heute ohne Regen?«, wunderte sich Martha und statt Ohlrogge die Haare wie sonst mit einem Handtuch zu trocknen und seinen Regenanzug nach draußen zu hängen, richtete sie ihm den Hemdkragen und öffnete den obersten sowie untersten Knopf seines Jacketts.
    »Ich nehme heute zwei Frauen. Sind die Parkinsons da?«, fragte Ohlrogge.
    »Wir haben eine Neue«, sagte Martha. »Die kommt aus Russland und sieht aus wie ich mit 20.«
    Ohlrogge setzte sich an die Bar. Es war noch früh. Der Club öffnete um acht Uhr, jetzt war es zehn nach acht.
    Bisher war der Porno nur auf dem Mini-Bildschirm zu sehen gewesen und meist funktionierte ja auch der Videorekorder nicht, sodass Ohlrogge viele Abende selbst auf der Fernbedienung herumgedrückt hatte. Heute jedoch lief alles störungsfrei über die gesamte hintere Wand des Clubs, und die Frau, ihre Brüste und das Geschlechtsteil des Mannes waren nun beeindruckend groß.
    »Beamer, nagelneu!«, erklärte Martha. »Trinkst du wieder deinen Tee?«
    »Nein«, antwortete Ohlrogge. »Ich nehme heute einen Whisky.«
    »Hast du gehört, die Künstlerhäuser von nebenan, mit den ausländischen Malern? Die werden geschlossen. Es gibt kein Geld mehr für Worpswede. Die Künstler sollen jetzt nach Lüneburg. Nach Lüneburg! Wer will denn dahin?«
    »Keine Ahnung«, sagte Ohlrogge. Er sah immer noch auf die Geschlechtsteile, obwohl er den Film von der Frau, die zum Putzen kam und dann doch nicht putzte, in- und auswendig kannte. Aber bisher war alles eben sehr klein gewesen und nicht mit solchen Riesenteilen, die ihm ähnlich überproportioniert erschienen wie der Guss des Bauernführers vor seinem Haus.
    »Die Neue spricht sogar ein bisschen Deutsch. Ihre Mutter kommt aus einer deutschen Familie. On the rocks?«, fragte Martha.
    »On the rocks ...«, wiederholte Ohlrogge, er hatte vergessen, was das überhaupt war, aber Martha sagte so selbstverständlich »on the rocks«, dass er mit dem Kopf nickte.
    Es klingelte. Martha ging zum Eingang und öffnete. Eine Frau lief mit Mütze und Mantel auf die Pornowand zu und öffnete die Tür zu den hinteren Zimmern. Sie klappte ein paar der zentralsten Körperteile einfach auf, was Ohlrogge so vorkam, als laufe jemand in die Pornomenschen hinein.
    »Das war Sylwia. Nettes Mädel«, sagte Martha.
    Ohlrogge kannte Sylwia schon. Er hatte sie an einem der anderen Abende auf dem Zimmer gehabt. Sylwia kam aus Polen, war zehn Jahre in Frankfurt gewesen und seit ein paar Wochen im Club. Im Gegensatz zu den anderen Frauen war sie alt, sogar hässlich. Man sah, wie die

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