Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
hatte soeben seine Mutter angerufen und ihr alles vorgelesen, von vorne bis hinten: Wie ein ahnungsloses Kind Kuchen zu den Seelen in die Scheune bringen will. Wie es sieht, dass sich der eigene Vater die Tante nimmt, sie später tot ins Moor trägt und ihr gerade geborenes Baby sich eine andere Tante nimmt. Und wie das Kind, das vorher nur mit Kuchen Seelen füttern wollte, auf einmal mit einem schrecklichen Wissen in der Welt steht und langsam irre daran wird.
»Wie soll man sich das vorstellen?«, hatte Paul seine Mutter gefragt. »Die eine Tante versteckt, gefangen, angekettet mit dickem Bauch im dunklen Schuppen, während die andere mit Kissen unterm Mantel in freudiger Erwartung durchs Dorf spaziert? Warum hat niemand Marie da rausgeholt?« Er sah dabei aus dem Fenster auf die Scheune. Er würde nie wieder einen Fuß dort hineinsetzen, dachte er und fragte weiter: »Kannst du dir das vorstellen? Wie ein Kind zwischen lauter Schnapsflaschen in unserer Scheune sitzt und sich anschauen muss, was der Vater macht? Und sich am Ende nicht einmal mehr traut, die Benachrichtigung vom Tod des Onkels abzugeben, weil es damit die Lüge und die wahre Geschichte aufdecken würde?«
Seine Mutter schwieg.
»Und ich sitz die ganze Kindheit über in meinem Zimmer und zerbrech mir den Kopf, wie das mit der Fortpflanzung geht! Hat Hilde ihr das Kind dann aus dem Bauch gerissen oder was? Woran ist Marie gestorben? Am Nationalsozialismus? An der Liebe zum Kolonievater? An Altersschwäche? Wie findest du denn die Geschichte von der Gestapo, die Marie abgeholt hat?« Schweigen.
Nächste Frage: »Glaubst du, man kann einen Menschen töten, um dafür endlich selbst einen Menschen zu bekommen?«
Schweigen.
»Und glaubst du, meine Großmutter hat da mitgemacht? Oder stand sie einfach nur in der Küche, backte Butterkuchen und wusste von nichts?«
Schweigen.
»Da steht, seit ich denken kann, eine Frau im Garten! Und jetzt würde ich gerne wissen, was mit ihr geschehen ist. Ich frage dich noch einmal wie früher: Liegt Marie im Moor?«
Seine Mutter atmete nur.
»Das war also unsere große Seelenscheune, in der geheimnisvolle Winde im Hohlraum von Großvaters Werken wehten!«
»Schwachsinn. Und so etwas glaubst du?«, erhob seine Mutter plötzlich ihre Stimme.
»Ich kann ja nach Lübeck fahren und PHH selbst fragen«, sagte er.
»Dieser Onkel ist längst tot. Du kannst dir die Reise sparen. Der hat sich erhängt. Mit der Schnur vom Duschvorhang. 1989 schon. In seinem Zimmer in Lübeck.«
»Es gibt einen zweiten Fund«, sagte Paul nach einer Weile, blass vor Wut, dass sie ihn nie über den Tod seines Onkels informiert hatte. »Wir haben herausgefunden, dass es einen Nachfolger gibt. Der Erste in unserem Garten beschäftigte sich mit der Blut- und Bodenideologie, das war Hitler irgendwann zu unkonkret. Der Neue hatte höhere Pläne. Der hält zwar den Arm schön unten, war aber noch schlimmer. Der legte die Ministerien für Agrarfragen und Massenmord einfach zusammen. Bis gestern stand er im Garten deines Vaters, wurde aber schon von der Touristik GmbH oder sonst wem abgeholt.«
Paul überlegte, ihr noch den gesamten Backe-Plan vorzutragen, der in seinem Notizbuch stand: Überfall auf die Sowjetunion. Aushungerungsstrategie für den Ostraum. Grüne Mappe. Rassenlehre etc., doch er sagte nur: »Weißt du, ich finde das mit diesen großen Scheißskulpturen im Garten gar nicht so schlimm. Kannst du dich noch an die inneren und äußeren Kühe erinnern?«
Sie schwieg wieder.
»Äußere Kühe hatte man im Stall und auf der Wiese, und wenn man sie verkaufte, konnte man das Land verlassen. Aber wenn man innere Kühe hatte, dann kam man nie wieder raus aus dem Moor. Und wir sind auch nie herausgekommen. Wir haben den inneren Hitler in unserer Familie. Mit den Skulpturen im Garten hätte man leben können, aber mit einem inneren Hitler geht das nicht.«
»Ruf an, wenn du einen anderen Ton gefunden hast«, sagte sie und legte den Hörer auf.
Paul hatte gleich danach wieder angerufen. Im Grunde wollte er die ganze Zeit etwas anderes fragen.
Sie nahm nicht ab.
Er wählte von Neuem, ließ es klingeln. Nichts.
Wie sie wieder über ihn hinweggegangen war, dachte er. Warum hatte sie ihm damals nicht vom Selbstmord seines Onkels erzählt? Und auch nie danach? Kein Wort über den Tod ihres Bruders. Kein Wort über ihren Vater im Krieg. Und nie ein Wort über ihre Mutter und Marie. Dafür immer nur, wie dumm es sei, in Berlin zu leben, mit
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