Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Schminke in den Rillen und Furchen zusammenlief, wenn sie leicht schwitzte. Ihre Narbe an der Brust war Ohlrogge erst aufgefallen, als sie sich ihren BH wieder anziehen wollte. Vielleicht hätte er es schon vorher bemerken können, aber es war an einem dieser Parkinsontage gewesen. Die gesamte Osterholzer Gruppe war in neuer Besetzung in den Club eingedrungen und hatte alles abgegrast. Nur Sylwia saß noch da, und man musste schnell handeln, bevor die Parkinsons aus den Zimmern kamen und ohne ein
Getränk einzunehmen sofort die zweite Runde einläuteten.
Ohlrogge erschrak, als er die Narbe erst nach dem Sex sah. Er suchte nach Worten, die diese Situation überspielten; er wollte ohne diese spürbare Ernüchterung, die für Sylwia doch kalt wirken musste, seine Socken aus den Schuhen ziehen und sich, ohne zu schweigen, ankleiden. Dieses Schweigen, das nach solchen Sex-Begegnungen aufklaffte wie ein Erdgraben. Um so etwas halbwegs überbrücken zu können, musste er immer irgendwelche Dinge erzählen oder die üblichen Fragen stellen: Woher kommst du noch mal genau? Wie lange bist du schon in Deutschland? Fährst du oft in die Heimat? ... Ohlrogge hielt sich für einen höflichen Freier, keinen, der auftrat wie jene Worpsweder Künstler, die den Feminismus und die Selbstverwirklichung ihrer Partnerinnen schon seit über dreißig Jahren ertragen mussten und nun wenigstens im Club die Frau wieder in die Vergangenheit zurückstoßen wollten. Ohlrogge war eher jemand, der dazu neigte, die Begegnungen im Don-Camillo-Club auf eine sensiblere Art und Weise emotional aufzuladen.
Als zum Beispiel mit Sylwia das Polenthema relativ schnell erschöpft und Ohlrogge noch nicht einmal bei den Hemdknöpfen war, erzählte er ihr einfach von einer Frau aus dem Moor, die keine Kinder kriegen konnte, sich mit dem Messer vor den Spiegel setzte und Gott strafen wollte, weil er sie als Frau verleugnete und ablehnte. Als er schließlich seine Schuhe gebunden hatte, saß Sylwia wie versteinert da. Der BH war ihr aus der Hand gefallen. Ohlrogge hatte vermutet, es wäre der Smalltalk über Polen gewesen, der sie hatte verstummen lassen, die Belanglosigkeiten über ihre Heimat, mit denen er die Entdeckung ihrer hässlichen Brust zu überspielen versucht hatte. Deshalb hatte er plötzlich von der Frau aus dem Moor erzählt, etwas aus dem Leben, aus einem gescheiterten Leben, er wollte sich einfach der Situation und ihrer verunstalteten Brust stellen. Und letztlich war das ja auch sein Thema: Warum manche Menschen immer weiter bestraft wurden, immer noch ein Rückschlag und noch einer. Er setzte sich an die Bettkante und erzählte Sylwia die gesamte Kückgeschichte: Wie er verlassen wurde, und wie man ihn aus der Worpsweder Gesellschaft ausschloss und seine Bilder abhängte. Wie ihn der Vater von Johanna sogar mit einer Flinte über den Haufen schoss und danach auch noch ruinierte, nur weil er, Ohlrogge, krank, blind und taumelnd vor Liebe seinem Herz Luft machen wollte.
Er öffnete wieder sein Hemd und zeigte Sylwia die Schussnarben an seinem Arm. Er hielt sie vor ihre traurige Brust wie zum Vergleich.
»Worpswede!«, sagte er. »Bei dir Polen, bei mir Worpswede! Künstler, die schießen und Schadensersatzforderungen stellen! Kriminelles, verlogenes, geldgieriges Worpswede!«
Im Prinzip war er auch hier im Nachhinein betrogen worden. 100 Euro für Brüste mit Narben, dachte Ohlrogge. So etwas kann einem nur in Worpswede passieren, 100 Piepen für verstümmelte Titten! Worpswede beutete ihn immer noch aus, wo es nur ging! Die Malschule nahm viel zu hohe Provisionen und im Don-Camillo-Club bekam er nicht einmal Rabatt, wo er doch eigentlich schon mehrmals zum Kunden des Jahres oder KUNDEN DES JAHRHUNDERTS hätte gekürt werden müssen, nur das heiße Wasser für seinen Fencheltee war umsonst!
Ohne Club ging es allerdings nicht. Schon, wenn es zu regnen begann und er seinen Schutz- und Tarnanzug überstreifte, spürte Ohlrogge dieses Flirren. Ein drängendes Fliegen im Bauch, das sich bis in die Fingerspitzen ausbreitete. Es begann zu regnen und schon kam dieses Flirren und Fliegen, ein kurzer Glückszustand, wie ein Sog, er musste dem folgen. Der Regen, rechtfertigte er sich, war wie ein göttlicher Fingerzeig, den es zugegebenermaßen ziemlich häufig gab in Norddeutschland. Und nun war er sogar schon ohne Regen in den Club gekommen.
»Hallo«, sagte Ana. Sie setzte sich auf den Barhocker und rutschte etwas auf dem Stuhl herunter, um auf
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