Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
er morgen noch alles mit Brüning klären und dann in zwei, drei Tagen abreisen und sich um sein eigenes Leben kümmern würde. Irgendwann müsste er endlich in irgendetwas hineinfinden, dachte er, er stand immer nur am Rande, er war noch nirgendwo angekommen, er musste endlich etwas Richtiges aufbauen. Aber wie sollte er etwas aufbauen, wenn bei ihm der ganze Unterbau wankte? Konnte man etwas aufbauen ohne Untergrund? Würde das halten?
Da stand auch mein Hustensaft von früher, fa, und? Schon gut.
Nullkück zog die Decke über den Kopf. Die Fetzen des zerrissenen Fotos von Hilde fielen auf den Boden.
»Sollen wir morgen deinen Computer in meinem Zimmer aufbauen?«, fragte Paul. Der Rechner surrte vor sich hin.
Keine Antwort.
»Wir müssen morgen auch das Seil von Luther nachspannen, ich glaube, du hast das gestern gar nicht geprüft? ... Wie geht's denn Tinchen? ... Du kannst mir auch mal etwas mailen, wenn du willst ...«
Nullkück drückte und umklammerte Pauls Hand, so als wolle er sie nie wieder loslassen.
»Ich mag Tinchen«, sagte Paul nach einer Weile. »Tinchen55, oder?« Nullkück hielt nur seine Hand.
Ana und Ohlrogge im Himmelbett
Ana verließ noch einmal das Zimmer. Ohlrogge zog sich schnell aus. Er wollte immer schon nackt sein, wenn die Frauen wieder zurückkehrten, nachdem sie das Geld bei Martha abgegeben und sich für die Arbeit frisch gemacht hatten. Dieses Herunterziehen und Heraussteigen aus den Hosenbeinen war ihm in Gegenwart der Frauen unangenehm. Einmal waren ihm seine Feigen für die bessere Verdauung herausgefallen, ein anderes Mal hatte er das Gleichgewicht verloren und war zu Boden gestürzt. Dazu kam das Weglegen der Schuhe und Strümpfe, die ja oft etwas feucht waren und möglichst von der Hose oder Jacke verdeckt werden mussten, damit sie nicht offen herumlagen und herüberrochen. Es war schon vorgekommen, dass Ohlrogge gar nicht entspannen konnte, weil er sich mehr auf einen käseartigen Geruch konzentrierte als auf die gebuchte Frau. Er ging nur noch mit Einlegesohlen in den Don-Camillo-Club, die mit Zedernholz und Zimt präpariert waren.
Zimmer 1 war das schönste. Es gab ein Himmelbett mit traditionellen Eichenbettpfosten und von der Dachkonstruktion hing ein zarter, transparenter Stoff herunter. Locker und modern drapiert. Der Himmel war hellblau. Zwar sah Ohlrogge durch die Vorhänge auf die Lichter des Barkenhoffs wie auf seine alten Träume von einer weiß strahlenden Terrasse, die er für sein Leben erhofft hatte, dennoch wähnte er sich hier in einer anderen, einer besseren Zeit.
In Zimmer 1 wie auch in den anderen Clubzimmern fühlte sich Ohlrogge jünger, als er war. Vermutlich würden sich die meisten Menschen jünger fühlen, als sie waren, wenn man sie nicht ständig von außen auf ihren Verfall aufmerksam machte. Aber in diesen Zimmern wies ihn keine Frau darauf hin, dass das Alter gekommen war. Im Gegenteil: Die Frauen hier wussten, worauf es ankam. Als Mann lebte Ohlrogge nur noch in diesen Zimmern. Und in all den Jahren, in denen er sie aufgesucht hatte mit seinem Regenüberhang; mit jeder Frau, die er hier aus exotischen oder osteuropäischen Ländern vorgefunden hatte; mit jeder Michelle, Danielle, Coco oder Chantal waren ihm die Wege draußen zu den norddeutschen Frauen voller Mühen, viel zu lang und endlos erschienen. Er hatte keine Sprache mehr für solche Wege.
Ohlrogge hatte seine Anziehsachen über den Sessel gelegt, die Schuhe trotz der Zimt- und Zedernholzsohlen zugedeckt und saß nackt und fertig am Rande des Himmelbettes. Er sah auf die Tür, die gleich geöffnet werden würde von einer Frau, wie er sie hier noch nie gehabt hatte. Sie war nicht nur unendlich schön, jung und groß, sie hatte sogar einen Sinn für Kunst, für Malerei. Dabei wirkte sie so, als hätte sie sich verlaufen in dieser Welt. Wie ein großes, verlorenes Mädchen würde sie gleich in das Zimmer 1 eintreten, und nun lag es an ihm, ob er sie danach weiterhin verloren aus dem Zimmer wieder hinaustreten ließ oder ob er in der Lage war, sie zu retten.
Er kam sich bei dem Gedanken einen Moment lächerlich vor und fasste an seinen Schwanz. Eine Frau retten, in welcher Welt denn? Etwa da draußen, wo er bisher nicht einmal in der Lage gewesen war, sich selbst zu retten? Vielleicht hätte er vorher noch auf Toilette gehen sollen, dachte er. Er befühlte seine Nasenlöcher, ob irgendein unvorteilhaftes Haar herausstand, was ihm normalerweise bei den anderen Frauen
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