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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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sprechen.
    »Ja, wirklich!«, sagte Ana. »Um vier?«
    »Um vier ...«, wiederholte Ohlrogge. Er dachte: Aufräumen ... aufräumen!! Putzen!!! Er rechnete schon, wie viel Zeit er noch hatte. »Geht's auch um fünf?«, fragte er, wieder ein Mann in einer Hose.
    »Ja«, antwortete sie.
    »Viehländer Straße 11. Eine sehr lange Straße. Außerhalb. Fünf Kilometer. In der Kurve. Auf der rechten Seite. Hinter dem Schild: Wildwechsel! Ein rotes Haus«, erklärte er.
    »Taxi?«
    »Taxi ist am besten!« Er schrieb ihr alles genau auf. Dazu gab er ihr zwanzig Euro.
    Ana lächelte. Sie nahm das Handtuch, ihren BH, den Slip, ihre Tasche, sämtliche sinnlos zerrissenen Kondomtüten und die hohen Schuhe, indem sie die Fingerspitzen in die feinen Schlaufen steckte. Dann ging sie aus dem Zimmer.
     

Die Neugründung (Und die Nacht bei Marie)
    Die Raupenfahrzeuge kamen um sechs Uhr am Morgen die Einfahrt hinunter und fuhren auf das Haus zu. Sie brachten den Boden und den ganzen Garten zum Schwingen. Eine Stunde später frästen sich die Bohrer in das Moor. Die Zementmischer, die zwischen Nietzsche, Napoleon und der Großmutter standen, rührten den Beton an, und Kovacs Leute sorgten für Nachschub und Anmachwasser in den Trommeln. Brünings Männer arbeiteten an den Bohrgeräten, und die Kühe von Renken sahen geschlossen und teilnahmslos herüber.
    Nullkück hatten die Männer mitsamt seinem Bett in den Garten getragen und neben Marie abgestellt.
    Es begann zu regnen, und ein Wind wehte durch den Garten und das Bett.
    Paul konnte es nicht mit ansehen. Er holte den Schirm. Es war der hellblaue Schirm, den Nullkück bei Pauls Ankunft schützend über ihn gehalten hatte. Vor wie vielen Tagen oder gar Wochen war das gewesen? Wann war er denn hier angekommen?, fragte er sich. Er hielt den Schirm über das Bett und über Nullkück, der regungslos in eine der Zementmischer-Trommeln starrte.
     
    So verging die Zeit. Der Zement roch nach Zahnarzt, dachte Paul, dazu der saure Geruch des uralten Moores mit seinen ewigen Bleichmoosen, die an den Bohrern hingen, als sie sich wieder aus der Erde drehten.
    Paul nahm sein Notizbuch und arbeitete an seiner Anzeige weiter:
     
    Historisches Anwesen in Worpswede zu verkaufen. Landhausvilla! Komplettsaniert. Modernisiert. Ost- und Westflügel. Traumhafter Garten (2.500 m2). Mit Gärtner (Hausmeister!)
     
    Er konnte ihn nicht einfach wegschicken, dachte Paul. Nullkück würde nur hier leben können. Man müsste ihn irgendwie als Beigabe mitverkaufen. Niemand müsste ihn bezahlen. Um das wenige, was er benötigte, würde sich Paul schon kümmern. Nur ihn in ein Heim schicken, das könnte er nicht. Und warum sollte man nicht einen freundlichen stillen Mann kostenlos dazuhaben wollen, der sich um alles kümmerte? Überall nach dem Rechten sah? Das Haus kannte wie kein anderer und es liebte? Und so ein schönes Lächeln hatte, wenn man ihm Aufmerksamkeit schenkte? Und selbst, wenn man keinen Kontakt zu Nullkück wünschte, er säße vollkommen geräuschlos in seinem kleinen Zimmer auf der Ostseite und würde niemals jemandem zur Last fallen und ohne Erlaubnis unter die Augen treten. Nur der Geruch seiner Buchweizenpfannkuchen würde in den Garten hinüberwehen an windigen Tagen.
     
    Der Hausmeister ist ein bescheidener, stiller Mann, der mit dem Haus seit Langem verbunden ist.
     
    Nullkück starrte immer noch in die Trommeln der Zementmischer. Paul betrachtete die Skulptur neben dem Bett. Er sah zwischen Marie und Nullkück hin und her, so als vergleiche er Mutter und Sohn - bis sein Blick auf die Längsseite der Bronze fiel.
    Eine Art Naht, dachte er. An der anderen Seite auch.
    Er stieg auf das Bett und sah auf den Kopf: auch dort diese Naht, so als hätte man die Skulptur zusammengenäht und nicht in einem Stück gegossen. Er lief zu den anderen, zu Willy Brandt, Bismarck, Luther, seiner Großmutter, Rilke, zum Roten Franz: alle aus einem Guss, ohne Naht.
    Paul setzte sich wieder auf das Bett zu Nullkück. Es regnete stärker, und unter dem hellblauen Schirm sahen sie der Neugründung des Hauses zu.
    Am Nachmittag fragte Paul: »Lieber, wäre es möglich, dass du mich mit dem Trecker in die Große Kunstschau fährst?«
    Nullkück, der doch so gerne Trecker fuhr, starrte immer noch ohne Regung vor sich hin.
    »Da gibt es etwas von deiner Mutter«, sagte Paul. »Vielleicht bringe ich dich so zu ihr.«
     

Nullkück und Marie (Armreif und Kunstraub)
    Obwohl der kleine schmale Weg, der von der

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