Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
nichts genutzt, sie schlugen auch nicht bei der Osterholzer Gruppe an. Am Ende blieb nur die Wahl zwischen einer Beweglichkeit mit jener Sucht, die einen so einsam machte, oder einer zitternden Unbeweglichkeit und Lähmung mit wachen, gesünderen Sinnen.
Ohlrogge saß an der Bar und wartete auf Frauen aus Osteuropa oder Lateinamerika. Er griff in seine Tasche und bestellte bei Martha heißes Wasser, Ohlrogge trank fast nur Fencheltee, um seinen häufigen Verstopfungen vorzubeugen. In der Regel nahm er sich ein paar Beutel mit, er steckte sie ins Jackett unter dem Regenüberhang und gelegentlich verstaute er dort auch gedörrte Früchte wie Aprikosen, Pflaumen oder Feigen, wenn er sich vornahm, den ganzen Abend bis in die Nacht im Don-Camillo-Club zu bleiben.
Es war schon kurz vor neun. Martha drückte auf der Fernbedienung herum, um den Porno anzustellen, der, wenn alles funktionierte, auf einem winzigen, über der Bar hängenden Bildschirm lief: Eine Frau kommt zu einem Mann zum Putzen und putzt ein bisschen und dann nicht mehr. Dieser Film lief jeden Abend, wenn die Technik mitspielte. Ohlrogge tunkte seinen Beutel in die Tasse und wartete darauf, dass die Parkinsons zum Ende kamen, dabei versank er in seinen eigenen Krankheiten: Vergangenheiten. Gab es Menschen, die an Vergangenheiten hingen wie an Nadeln?
Sommer 1967, gleich nachdem er verlassen wurde (Das Duell)
Er kommt einfach uneingeladen zu einem von Paul Kücks Gartenfesten und bringt seine zwei Vorderladerpistolen mit, Modell Napoleon Le Page, eine für Rechts-, eine für Linksschützen, 45er, Präzisionsrundkugeln, mit schwarzem Transportkoffer.
Die letzte Duellforderung hatte es in Worpswede 1895 gegeben, als der junge Maler Otto Ubbelohde mit einer Kohlezeichnung Fritz Mackensen, den Gründer der Kolonie, karikierte. Mackensen hängte seine blank gebürstete bayerische Offiziersuniform in die Morgensonne und errichtete schon den Schießstand am Weyerberg, als das Duell vom Offiziersehrengericht in Bremen untersagt wurde, wo Mackensen die Genehmigung beantragt hatte.
Er selbst, Peter Ohlrogge, hat im Sommer 1967 auch keine Genehmigung, woher auch? Er steht im Moorgarten der Kücks und sieht den neuen Freund, der neben Johanna an der Gartentafel sitzt und wie selbstverständlich einen Arm um sie legt. Einmal fährt er mit der Hand durch ihr Haar, zieht es sanft nach hinten, um sich über ihr Gesicht zu beugen und den leicht geöffneten Mund zu küssen, dabei legt er die andere Hand auf ihren Schoß. Es ist die rechte Hand, er wird mit rechts schießen, denkt Ohlrogge und geht mit pochendem Herz, das rast, das schreit, das dieses Bild nie wieder wird loslassen können, auf die Tafel zu. Er öffnet den kleinen Transportkoffer. Er greift in die samtschwarze Vertiefung, um die von seinem Vater gepflegten Waffen herauszuholen, ein Erbstück, mit dem er bisher nie etwas anfangen konnte. Zuerst die Pistole für Rechtsschützen, dann die andere für Linksschützen. Bei beiden wird die Treibladung über Hütchen gezündet, indem ein Schlaghahn auf einen sogenannten Piston trifft, der entweder rechts oder links vom Lauf angebracht ist. Er drückt dem neuen Freund von Johanna die Pistole für rechts in die Hand. Er selbst wird mit links schließen, er ist Linkshänder wie alle Menschen, die er verehrt, er hat das nachgeprüft: Muhammad Ali, Mozart, Bob Dylan, Rachmaninow, Caspar David Friedrich, die Jungfrau von Orleans, Picasso.
Er stellt sich im Moorgarten im Abstand von 25 Fuß auf, die er vor Herzrasen mehr taumelnd zurücklegt und die er der Beschreibung eines Duells im alten Stil zwischen dem russischen Dichter Puschkin und einem französischen Gardeoffizier entnommen hat.
Einige Gäste aus Bremen, die ihn, Peter Ohlrogge, nicht kennen, unterbrechen ihre Gespräche und erwarten ein Happening, das öfter auf Künstlerfesten in Worpswede praktiziert wird. Andere, die ihn sehr wohl kennen und wissen, dass Johanna frisch verliebt ist - sie stehen halb erstarrt, halb gerührt da in einem Moment großer Gefühle, in dem sich doch eine Frau besinnen und zu ihrer alten Liebe zurückkehren müsste.
»Schieß!«, ruft er dem anderen Mann zu, greift noch einmal am Griff nach, der nicht fest genug in seiner feuchten Hand liegt. »Schieß doch!«, schreit er.
Die Happening-Zuschauer aus Bremen spenden aufmunternden Applaus, doch der neue Freund schaut nur irritiert Johanna an.
»Bei Ihnen empfangt das Piston den Schlaghahn links, damit Sie mit rechts
Weitere Kostenlose Bücher