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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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modernen Zeit sei und sich in viel höheren Kulturen aufrechte und archaische Gebärhaltungen finden ließen, die auf die Schwerkraft der Erde setzten. Und so habe sie, umgeben von tausend Jahre alter Eiche, mit den Armen über der Kleiderstange gehangen, ihr Beckenboden sei dabei frei geblieben - was Paul eigentlich nie so genau hatte wissen wollen - und bei kurzer Pressphase plus Schwerkraft wäre Paul dann fast auf den Schrankboden gefallen, wenn ihn Ulrich Wendland nicht aufgefangen hätte.
     

Ohlrogge im Don-Camillo-Club (I)
    Peter Ohlrogge ging nur ins Bordell, wenn es in Worpswede regnete. Er legte dann den Regenüberhang an mit riesiger Kapuze, stieg auf sein Fahrrad und fuhr von Viehland, das hinter der Ortsgrenze Worpswedes lag, zum Weyerberg. Dort schloss er sein Fahrrad an einen Baum, nahm vorsichtshalber auch die Luftpumpe aus der Halterung und lief in seiner dunkelgrünen Regenausstattung, in der er aussah wie ein großer Frosch, die andere Seite des Weyerbergs hinunter bis zum Bordell, das sich gleich hinter dem Barkenhoff befand. Früher war dort die Hofstelle einer versoffenen Bauernwitwe gewesen, doch dann kam Heinrich Vogeler, Ohlrogges großes Vorbild, und baute aus den Kuh- und Schweineställen eine anmutige Villa mit weiß strahlender Freitreppe und einer herrschaftlichen Terrasse sowie dem Dichter Rilke als Dauergast im Giebel.
    Es regnete also wieder in Strömen in Worpswede und Ohlrogge hatte es auch diesmal als ein göttliches Zeichen gedeutet, den Abend bei den Huren zu verbringen. Er lief mit seinem Froschanzug den Osthang des Weyerbergs hinunter, bemerkte, wie im Barkenhoff Lichter brannten, und näherte sich mit leisen Schritten. Er sah durch das Fenster einem jungen Künstler zu, der konzentriert über seiner Arbeit saß im weißen Hemd, dabei hörte er eine russische Musik, die immer schneller und lebendiger wurde.
    Wie oft war Ohlrogge früher durch den Barkenhoff gelaufen, hatte wie die berühmten Künstler auf der Terrasse gesessen und gedacht, er könne ein neuer Heinrich Vogeler werden, Großkünstler, erfolgreicher Utopist, Märchenkönig, ein Idealmensch. Und sah er nicht auch ein bisschen so aus wie dieser Vogeler: das feine, blasse Gesicht, die spitze Nase, der schmale, leicht traurige Mund, die fernblickenden Augen? Was hatte sich Ohlrogge nicht alles erträumt: Arbeit, Erfüllung, Ruhm, die Welt verändern, Anführer der neuen Generation, dazu eine junge Frau, mit der er auf einer hellen, herrschaftlichen Terrasse sitzen konnte, die doch für sein Leben vorgesehen war!
    Ohlrogge drückte die Klingel des Don-Camillo-Clubs.
    Martha, die Barfrau des Hauses, öffnete die Tür. Sie nahm Ohlrogge die Luftpumpe ab, zog ihm den Regenschutz über den Kopf und hängte den Umhang zum Abtropfen an einem Bügel draußen unter die Rinne des Daches. Danach holte sie ein Handtuch aus der Toilette gleich neben der Eingangstür und rubbelte über Ohlrogges grau gelocktes Haar, das an manchen Stellen trotz Kapuze vom Regen nass geworden war.
    »Na, dann komm mal rein. Heute sind wieder die Parkinsons da«, sagte sie.
    »Was, jetzt schon?«, fragte Ohlrogge erstaunt, der Club hatte um acht Uhr aufgemacht und jetzt war es erst fünf nach acht.
    Die Parkinsons besuchten den Club meist als Gruppe. Manchmal zu zehnt und sie buchten dann sofort die gesamte Belegschaft, ohne überhaupt ein Vorgespräch zu führen. Die Parkinsons kamen aus der Neurologischen Klinik in Osterholz, die ihren Patienten einen Wirkstoff verabreichte, der im Gehirn der Kranken einen bestimmten Botenstoff produzierte und den Tremor, das Zittern, die Steifheit und die Verlangsamung der Bewegungen bekämpfte. Das Teuflische war, dass der Wirkstoff zwar dem Morbus Parkinson entgegenwirkte und problemlos den Schutzwall, den das Gehirn umgab, durchdringen konnte, aber extreme Nebenwirkungen hatte: exzesshafte Süchte, Spielsucht, Kaufsucht, vor allem verstärkte Sucht nach erotischer Spannung und Sex. Ohlrogge war einmal an der Bar mit einem Kranken ins Gespräch gekommen, der nach der ersten Therapie die Sucht nicht mehr zu zügeln imstande gewesen war und seine Frau verloren hatte. Er hatte nach immer neueren Spannungen gesucht, erst im Bekanntenkreis, dann bei Unbekannten auf der Straße und auf Schulhöfen. Am Ende war er Gast in allen Bordellen und Sexshops in Niedersachsen gewesen. Andere, leichtere Mittel oder alternative synthetische Präparate aus Tollkirsche, Bilsenkraut, Schöllkraut, Eisen, Zinn oder Blei hatten

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