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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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Storm holst du aus Husum ... Der Nebel drückt die Dächer schwer / Und durch die Stille braust das Meer ... Das habe ich dir immer rezitiert, weißt du noch? Das hast du so gerne gemocht. Über der Heide hallt mein Schritt, dumpf aus der Erde wandert es mit ...Wo, Paul, war noch mal Karl der Große? Wir sollten eigentlich auch die Erben von Willy Brandt anfragen, schließlich muss bei denen der Originalguss stehen, vom großen Sozialdemokraten brauchen wir das Original!«, wirbelte seine Mutter und las weiter:
     
    Wir bitten auch Sie, verehrte Frau Kück, Kunstwerke, die noch in Ihrem Privatbesitz in Worpswede sind, zur Verfuügung zu stellen.
     
    »Sag mal, was hast du gesagt? Die stecken alle bis zu den Knien im Moor?«, fragte sie zwischendurch. »Ja, aber ich habe auch gesagt, dass Nullkück sie an der alten Eiche festgebunden hat. So gehen sie nicht unter«, antwortete Paul.
    »Also, eins muss klar sein. Wenn dein Großvater jetzt KDJ wird, dann müssen die Kunstwerke aus dem Moor raus. Wer steht da noch gleich?«
    »Die, die da immer standen«, sagte Paul, ganz erschöpft vom Wirbel seiner Mutter.
    »Ringo Starr auch? Und Rilke?«
    »Ja. Rilke sieht aus wie eine Ziege. Wie kürzen die das ab?«
    »KDJ. Das ist die Fachabkürzung. Man sagt ja auch BRD!«
    »Wer hat den Brief geschrieben?«, fragte Paul. »Die Tourismus- und Kulturmarketing GmbH!« Sie las weiter:
     
    Wir haben bereits veranlasst, in den nächsten Wochen Mitarbeiter zum Abholen der Werke in den Teufelsmoordamm 5 zu entsenden, falls dies möglich ist.
     
    »Paul, ich benachrichtige die GmbH, dass es möglich ist, und du sorgst am besten mit Nullkück und Brüning dafür, dass alles zum Abholen bereitgestellt wird! Ich schreibe zudem die Erben von Willy Brandt an und frage nach dem Originalguss. Mensch, Junge, was da alles auf uns zukommt: das Haus neu gründen und KÜNSTLER DES JAHRHUNDERTS!«
    »Bist du sicher ... ?«, unterbrach Paul, er war aufgestanden und lief durch das Haus. »Ich meine, Ulrich schien doch immer etwas, wie soll ich sagen, skeptisch, ob Willy Brandt hier wirklich bei Opa im Garten war, um eine Skulptur zu bestellen ...«Er wollte seine Mutter nicht bremsen, er hatte nur keine Lust, sich am Ende auch noch um den Originalguss vom großen Sozialdemokraten zu kümmern, darauf würde es ja hinauslaufen, ihm reichte das ganze andere schon.
    »Die Brandt-Witwe soll total kompliziert sein«, fügte er hinzu.
    »Sei doch nicht wieder so negativ!«, sagte sie.
    »Bin ich nicht!«, erklärte Paul. »Die sind nur alle wahnsinnig schwer! Es ist nicht so einfach, die Bauern aus Tarmstedt zu holen oder Theodor Storm aus Husum. Außerdem muss ich mich ja auch um meine Galerie in Berlin kümmern, ich hatte eigentlich nicht vor, hier Wochen zu bleiben«, er lockerte wieder den Knoten der Krawatte.
    »Ich sehe das auch wie eine schöne Fügung«, befand seine Mutter. »Kaum entscheiden wir uns, unser Haus auf neue Füße zu stellen, schon kommt so eine wundervolle Nachricht. Wenn Husum nicht geht, dann holst du einfach den Bebel aus Osterholz und den Findorff aus Gnarrenburg und erkundigst dich beim Focke-Museum nach der großen Giftmörderin Gesche Gottfried, diese Idee kommt mir gerade, die bringt in die Ausstellung noch mal eine andere Farbe hinein, das war damals Großvaters Skandalskulptur, er hat auch nie auf den Spuckstein in Bremen gespuckt, irgendetwas hatte er mit dieser Gesche.« Sie las den Rest des Briefes:
     
    Zum Festakt am 25. Juli laden wir Sie, sehr geehrte Frau Kück, schon jetzt herzlich ein, in der Hoffnung, dass Sie Ihrer alten Künstlerkolonie wieder einmal die Ehre erweisen.
     
    »Ich dachte, man hätte meinen Vater schon vergessen. Und jetzt das, nach all den Jahren«, ihre Stimme wurde weich und leise vor Rührung. »Wenn von Großvater wieder etwas verkauft wird, dann bekommst du das Geld. Ich umarme dich.«
    Sie sprach noch vom Heimatmuseum, das nun bald aus dem Haus werden könnte, und bat ihren Sohn, sofort anzurufen, wenn über ihren Vater etwas in der Zeitung stünde, danach legte sie auf.
    Paul starrte auf seinen Geburtsschrank von 68 und die leere Kleiderstange. Sie war ursprünglich eine Vorderachse gewesen, sein Großvater hatte sie angeblich einem Militärfahrzeug der englischen Truppen entnommen, das im Moor stecken geblieben war. In der Ecke des absackenden Schrankbodens hing ein Spinnennetz. Es roch nach Feuchtigkeit, nach Moder, nach Untergang. Paul wurde schwindelig. Die meisten Menschen kehrten

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