Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Ostflügel des Hauses. Als Hinrich und Johan in den Krieg mussten, stapelten sie darin das Stroh des Sommers 1943, das sie zum Einstreuen für die Kühe in der Diele verwenden wollten und das angeblich noch immer dort lag. Sie stellten in der Scheune ihre Landwirtschaftsgeräte unter, die Dreschmaschine, die Kartoffel- und Kornwaage, die Schrotmühle, die alten, aus Holz geflochtenen Obstkörbe. Und sie lagerten dort ihren Schnaps, den Kornbrand und den Himbeergeist, den sie heimlich im Verborgenen der Scheune brannten und in Holzfässern gären ließen.
Darum hieß dieser Ort auch »Schnapsschuppen«, aber nur hinter vorgehaltener Hand, denn gerade Emil Jahn, der feindliche Nachbar, durfte vom heimlichen Schnaps nichts wissen. Dann, als die beiden Brüder in den Krieg gezogen waren, Hinrich an die Westfront, 7. Armee der Heeresgruppe D. Johan an die Ostfront, Nordukraine, in ständig wechselnden Heeren - ab da nahm Paul Kück den Schlüssel an sich und stellte seine Gipsmodelle zum Austrocknen in der Scheune unter.
»Die Scheune«, sagte er, »hat die richtige Temperatur für meine noch unfertigen Menschen.«
Johanna war voller Ehrfurcht vor diesem Ort der unfertigen Menschen ihres Vaters. Sie und ihre Brüder durften nie dort hin. Es gab auch keine Fenster, kein Licht, es war stockdunkel.
»In der Scheune«, raunte ihr Vater, »verwandeln sich meine Formen in Menschen, dort werden sie in der Dunkelheit lebendig, stört sie nicht. Stört sie nicht, bis sie sich vollendet haben! Eine Form, die in der Verwandlung ist, kann oft zu Dingen führen, vor denen wir uns in Acht nehmen müssen!«
Das sagte Paul Kück seit 1944, als der Herbst begann, und in Acht nahmen sich alle: Johanna, ihre Geschwister, ganz besonders ihr Bruder Paul Hinrich Hinrich, PHH genannt, der jetzt in der Psychiatrischen Anstalt in Lübeck lebte. Es hieß, er sei durch die geheimnisvolle Scheune mit den Formen, die sich in Menschen verwandelten, krank geworden.
Johanna Kück (Muttertelefonat Nr. 1 im Moor)
»Scheißschlamm!«, rief Paul, als er auf seine Turnschuhe sah, beziehungsweise er sah sie gar nicht mehr.
Nullkück sah ebenfalls auf seine halb versackten Gummistiefel und rief nur »Moor«, beim zweiten »Moor« klingelte Pauls Handy, auf dem Display leuchtete »Mutter auf dem Mond«, das war Pauls neueste Protestformulierung, immerhin leistete er seit gestern Widerstand gegen seine Mutter durch die Eingabe der Ruferkennung. Sie saß auf Lanzarote in tausend Jahre alten Gesteinsformationen mit ihrer Economie-telefonica-Vorwahl und er musste sich um alles kümmern, er würde überhaupt nicht mehr rangehen, dachte er, wenn es nicht diese gefährlichen Lanzarote-Verkehrskreisel gäbe.
»Alles in Ordnung?«, fragte er wieder direkt.
»Ja, wo bist du?«, fragte sie.
»Im Moor!«, antwortete Paul.
»Ah, im Moor, sehr gut! Und wie ist die Lage? Hast du nasse Füße?« »Ja, wie immer.«
»Ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass man im Moor Gummistiefel anziehen muss.«
»Ich habe aber keine mehr, ich lebe in Berlin, in der Hauptstadt!«, betonte Paul, derweil Nullkück schon einen seiner Gummistiefel ausgezogen hatte und ihm lächelnd hinhielt.
»Ist der Chicoree angekommen?«, fragte sie.
»Nein, der liegt jetzt schön rum auf der Post in Berlin, ich bin ja nun im Moor!«, antwortete Paul.
»Nicht so schlimm. Ich habe noch extra Luftlöcher in den Karton gemacht, dann kann der Salat atmen.«
»Fantastische Idee!«, sagte Paul.
»Ja«, sagte sie. »Als Erstes kaufst du dir jetzt ordentliche Gummistiefel, ohne Gummistiefel kannst du das Haus nicht retten! Hast du Brüning angerufen?«
»Der ist zu Tisch!«, entgegnete Paul.
»Mein Gott, es geht um die Geschichte der Künstlerkolonie! Da sitzt man nicht zu Tisch!«, meinte seine Mutter.
»Okay, ich rufe nach der Mittagsruhe noch mal an, so schnell versinken das Haus und die Künstlerkolonie, glaube ich, nicht«, sagte er, wissend, dass seine Mutter das Wort »Mittagsruhe« mindestens so hasste wie das Zu-Tisch-Sitzen der Norddeutschen, was die Kückfrauen und die Frauen der benachbarten Bauern schon immer veranlasst hatte, bereits um zehn Uhr morgens mit dem Kartoffelschälen zu beginnen, weil um zwölf »Mahltiet« war und der gesamte Teufelsmoordamm zu Tisch zu sitzen hatte.
»Wie geht es Großvaters Männern?«, fragte sie.
»Gut«, sagte Paul.
»Und deiner Großmutter?«
»Nullkück hat sie an der alten Eiche festgebunden«, erklärte Paul. »Die anderen auch, die
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