Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
stehen alle im Kreis. Sieht aus wie beim Kettenkarussell. Die fliegen aber nicht, sondern stecken bis zu den Knien im Moor.«
»Aha, da hat sich Nullkück wieder was ausgedacht«, kommentierte seine Mutter.
»Das Schild bei Jahns gibt's immer noch, ganz verwittert und moosbewachsen: Der Bildhauer«, berichtete Paul. »Ich dachte, der lebt schon lange nicht mehr?«
»Sein Enkelsohn, der Malte, ist auch Bildhauer geworden, wie sein Großvater, Künstler«, bemerkte Pauls Mutter.
»Soll das jetzt ein Vorwurf sein? Mir ist doch Malte total egal!«, seine Mutter musste das Wort »Künstler« nur in den Mund nehmen, schon fühlte sich Paul angegriffen.
»Was unser Haus betrifft, da hat dein Großvater immer am Eichenschrank gemessen, der ist das Schwerste, das Wichtigste, wichtiger noch als der Kachelofen!«, erklärte sie. »Wurde auch eine mögliche Absenkung des Eichenschranks überprüft?«
Sie hatte aus Lanzarote so laut »Eichenschrank« betont, dass auch Nullkück mit Nachdruck »Eichenschrank« wiederholte und Paul seinen rechten Schuh noch tiefer in den Schlamm presste vor Wut darüber, dass er wieder der Herrschaft seiner Mutter verfallen war.
»Gerade du bist mit dem Eichenschrank sehr verbunden, das wirst du ja wohl noch wissen«, sprach sie weiter. »Wenn sich der Eichenschrank absenkt, dann senkt sich früher oder später alles ab! Und nimm das Geld für Brüning erst mal aus meiner Lebensversicherung, die ich dir übertragen habe. Wir machen halbe-halbe. Du nimmst einen Teil aus der Versicherung, den Rest schieß ich zu. Dass die in Worpswede aber auch immer noch so stur zu Tisch sitzen! Ich muss los!«
Manchmal wusste Paul nicht, ob er mit einer Karikatur telefonierte oder ob seine Mutter wirklich so war. Er konnte auch nicht die alten Geschichten, die er von Johanna kannte, mit ihrer heutigen Tonart verbinden. Die Mutter war immer etwas Überzeichnetes, vielleicht auch, weil die Reizpunkte und Wiederholungen mehr und mehr in den Vordergrund traten und der Rest der Beziehung abstarb. Paul dachte oft, man müsste dazu aufrufen, beim Übergang einer Frau zur überzeichneten Mutter ganz besonders aufzupassen. Andererseits: War Johanna nicht auch eine Mutter, nach der sich Söhne sehnten, deren Mütter Plätzchen backten, ihre Wehwehchen aufzählten und stundenlang Fernsehen guckten oder Linienbus fuhren?
Pauls Mutter ließ sich von niemandem irgendeine »Fremdenergie aufdrücken«. Fernsehen und Linienbusse lehnte sie ab, Krankheiten ebenfalls, Plätzchen sowieso, Männer mittlerweile wohl auch. Sie lebte einfach ihr seltsam schönes Leben in ihren kreativen und psychologischen Kursen auf Lanzarote und liebte Salat, Gummistiefel und Lebenstipps für Söhne und Seminarteilnehmer.
Warum sollte er weiter differenzieren, sagte sich Paul. Wie sollte er differenzieren bei einer Mutter, die auf Lanzarote ein »Bewusstseinsstudio« leitete und ständig wie eine Westalliierte Salatköpfe über den Atlantik zu ihrem Sohn in die »vitaminlose Großstadt« schickte? Genau so war es und das bestimmt noch sehr lange. Paul war sich sicher, dass seine Mutter 120 Jahre alt werden würde und er noch genug Zeit hätte, irgendwann einmal nicht ans Telefon zu gehen. Er war jetzt 35 Jahre alt, in noch einmal fünfundvierzig Jahren, zu seinem 80. Geburtstag, da würde er einfach mal nicht rangehen, wenn seine topfitte, immer noch Kurven schneidende und in alles hineinrasende Mutter anrief mit irgendeinem neuen Supertarif.
Paul und Nullkück standen vor dem gewaltigen Eichenschrank im linken Flügel des Hauses. Die Dielen waren um den Schrank herum abgesunken und die Fußleisten hingen an der Wand und hatten keinen Kontakt mehr mit dem Boden. Um den Schrank aufzumachen sowie den Schlüssel umzudrehen, musste sich Paul leicht bücken und nicht wie früher springen, wenn er in dem Schrank die versteckte Schokolade vermutete.
Paul war in diesem Schrank zur Welt gekommen. Er war eine, wie seine Mutter überall zu sagen pflegte, SCHRANK-GEBURT VON 68. Paul kam dieser Ausdruck immer etwas programmatisch vor und er hatte das Gefühl, dass er als SCHRANKGEBURT VON 68 jemand war, der schon bei seiner Geburt aus der Gesellschaft hätte aussteigen sollen. Andere Kinder wurden in kreisstädtischen Krankenhäusern in Osterholz-Scharmbeck oder Lilienthal geboren und wenn nicht, so wenigstens zu Hause in einem herkömmlichen Bett - Paul in einem Schrank.
Seine Mutter hatte immer behauptet, dass das Liegen nur eine Erfindung der
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