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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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einfach einsammeln und bei der Reinigung unter dem Namen Ohlrogge als Sammelauftrag selbst einreichen können. Er fragt nach beim »Getränkehandel Stelljes«, bei »Jacobs-Kaffee« in Bremen, bei der Gärtnerei der Uphoff-Söhne, ob es nicht auch günstigere frische Erde gebe; bei den Wellbrocks, wieso Gülle eigentlich so irrsinnig teuer sei; beim Landwirtschaftsamt in Osterholz, warum er bestraft werde wegen Verstoß gegen die »Sperrfrist« in der »Gülleverordnung«, wo doch alle Bauern in Worpswede das ganze Jahr rund um die Uhr güllen. Es gibt 1967 in Worpswede 40.000 Kühe, man weiß gar nicht, wohin mit der ganzen Gülle, und leitet sie manchmal heimlich in die Hamme, in den Heimatfluss, nur jetzt, als er die Gülle verwertet, da ist sie plötzlich ein kostbares Gut.
    Am schlimmsten sind die Reinigungen von der Familie des Goya-Gatten und die Sommerhüte seiner angereisten Münchnerinnen, alle natürlich textiltechnisch nicht mehr reinigungsfähig: Wiederbeschaffungswerte, Schadenskompensationen, der reinste Horror. Bei den bayerischen Sommerhüten geht es richtig rund und es scheint, als würde Herr W, der neue Ehemann, das noch befördern, ihn obendrein auch noch mit den Sommerhüten fertigmachen wollen.
     
    Liebe Johanna!
    Wellbrocks klagen jetzt auf einen neuen Schleudertankwagen! Warum tust du nichts? Wie soll ich die 22.770 Mark zahlen? Willst du mich mit deinem Vater und seinem Garten, deiner neuen Verwandtschaft und den Worpswedern umbringen, nur weil ich mein Herz für dich nicht töten kann? Wundere dich nicht, wenn ich umso verbitterter kämpfen werde.
     
    Sie antwortet nicht. Er hofft jedes Mal, wenn er den Briefkasten öffnet, dass Post von Johanna darinliegt. Er sehnt sich nach ihrem Wesen, ihrer Verrücktheit, ihrem Indientick, ihrer verspielten, tiefen Leidenschaft - kindlich, wie sie war, zickig, wie sie war, bedingungslos, streng, dann zart und mütterlich mit ihren klaren blauen Augen. »Meine preußische Prinzessin« hat er sie genannt. Ja, in einer preußischen Prinzessin, denkt er, liegt das ganze Glück für einen Mann.
     
    Liebe Johanna!
    Bitte frage deinen Vater, ob er in der Sache noch Spielraum sieht. Wenn jetzt noch Spezialreinigungen von vielen Skulpturen dazukommen, bricht es mir das Genick. Ich sitze mit den Kisten in einem kleinen roten Backsteinhaus hinter der Ortsgrenze, wo die Straße nach Osterholz eine Rechtskurve macht. Wir könnten hier Frieden schließen. Dein Peter.
     
    PS: Trägst du dein Haar wieder lang?
     
    Keine Antwort.
    So!, sagt er sich, nachdem er wieder jeden Tag gewartet hat: Jetzt reicht's! Ohlrogge beschließt, seine geliebte Johanna zu hassen. Er hasst und er zahlt. Und traut sich kaum noch, sein kleines Haus zu heizen. Er gibt Malstunden und wird sämtliche Forderungen von 52.900 Mark bis 1988 abstottern können, er wird von 1968 bis 1988 mit Malstunden für untalentierte Touristen im Moor büßen. Zwanzig Jahre - und noch viel länger - wird er mit diesen Klecksern und Hausfrauen in der feuchten Hamme-Niederung stehen, und die Kälte und dieses Moor werden in ihm immer höher steigen. Er wird monatlich auf seine Kontoauszüge bei der Sparkasse starren und mit jedem Monat wird der Hass in ihm wachsen.
    Für eine kurze Zeit flüchtet er nach Lauenburg zu seinen Eltern, in den südlichsten Zipfel von Schleswig-Holstein. Der Vater unterhält ein Geschäft für Schuhreparaturen. Später baut er an und eröffnet ein Fachgeschäft für Gesundheitsschuhe, in dem auch die Mutter tätig wird. Ohlrogge bittet seinen Vater, ihm zu helfen, allerdings erklärt er, er brauchte das Geld für ein neues Atelier, für eine Investition in der Künstlerkolonie. Dass sich die Ersparnisse des Vaters im Kückgarten und im Schadensersatz derWorpsweder wie Schnee auflösen werden, das kann er ihm nicht sagen.
    Er sitzt in der Wohnung über dem Schuhgeschäft, zieht die weißen Tüllgardinen zu und versteckt sich vor den Blicken der Nachbarn, die gar nicht auf die Idee kommen sollen zu fragen, warum der »große Künstler« eine Zeit lang wieder bei seinen Eltern in Lauenburg lebt. Er empfindet die Menschen, die er in das Geschäft seiner Eltern gehen sieht, als so eckig- und einsilbig, dass er fast Sehnsucht bekommt nach Worpswede und Viehland, gegen Lauenburg erscheint ihm das wie Italien.
    Manchmal geht er aus schlechtem Gewissen nach unten in die Schusterei und hilft mit, das Schuheputzen ist das Einzige, was er kann.
    »Musst du nicht ein Bild herstellen?«, fragt

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