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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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Keinen Strich kann ich mehr malen.
     
    Sie antwortet nicht.
     
    Liebe Johanna!
    Wie grausam und mechanisch mir alles erscheint. Hast du nun in Herrn W. einen Menschen gefunden, der sich wie dein Vater zum Zentrum von allem macht? Die Liebe kann in keinen Wichtigkeitswettbewerb treten und das sollte sie auch nicht. Muss ich mich morgen zum neuen William Turner ausrufen lassen? Herr W. und ich, wir hätten beide schießen sollen, dann hätte etwas Höheres entschieden.
     
     
    Winter 1967 (Das Trennungsjahr nimmt kein Ende)
     
    Es geht um die Schadensersatzansprüche wegen der Amokfahrt mit dem gestohlenen 2500-Liter-Güllewagen: zerstörte und in Rechnung gestellte Festkleider, Anzüge, Hemden, Sommerhüte. Circa 100 ruinierte Heinrich-Vogeler-Stühle, Jugendstil, mit Binsen geflochten, die Armlehnen aus Eichenholz gedrechselt. Ein ungenießbar gewordenes Hochzeitsbüfett vom »Kaffee Worpswede«. Vernichtete Blumenarrangements, Dekorationen, Geschenke, Plattenarchive, Musikboxen, vom Strahl zersprengte Konditoreiwaren von »Barnstorf« sowie eine riesige Hochzeitstorte von »Knigge« aus Bremen. Zerschossene Wein-, Sekt- und Schnapsgläser sowie die Brillengläser des Pastors. Ein angeblich vom Güllestrahl weggespülter und nie mehr wieder gefundener Brustschmuck, den der Dichter Gottfried Benn einer Worpswederin geschenkt hat. Gretas uraltes Tarmstedter Familienporzellan von 1848, ein Wunder, dass nicht für den heiligen Rilketopf irgendwelche Beulen reklamiert werden.
    Mittlerweile hat auch Herr W. Schmerzensgeldansprüche geltend gemacht, sowohl wegen des harten Güllestrahls, der ihn gegen eine der Bronzen im Garten geschleudert habe, als auch wegen des nicht stattgefundenen Duells. Ein »Trauma« habe der neue Goya davongetragen, mit ärztlichem Gutachten, 2.000 Mark, plus 400 Mark Anwaltsgebühren und 10 Stunden Physiotherapie mit Heilbädern.
    Was alles nichts ist gegen die Gülle-Klage und die Ansprüche des Brautvaters auf eine Sonderreinigung für seine historischen Skulpturen und eine komplette Erdreinigung wegen überhöhter Nitratmengen: Aushebung der Erdoberschicht, sechshundert Kubikmeter Frischerde mit anschließender Neusaat eines Rasens, circa 2.500 Quadratmeter, sechs Wochen Arbeitslohn von drei Mann eines Meistergärtnereibetriebes. Allein diese Forderung beläuft sich schließlich auf 22.770 Mark - Ohlrogges Existenz, seine ganze Lebensenergie fließt neben den Schadensersatzansprüchen der Worpsweder vor allem in den Wiederaufbau des Kück'schen Moorgartens.
    Seinen Liebesschmerz bekommt Ohlrogge nicht mehr in den Griff. Der Schmerz ist nicht nur in die Erdschichten des Gartens eingedrungen, er schlägt sich auch in 35 Rechtsstreitereien nieder. Jede für sich profan und lächerlich, aber zusammengenommen wie ein Todesurteil für einen Mann ohne Absicherungen.
    Wie kleinlich, wie unmenschlich und kalt die Menschen werden, wenn sie sich hinter juristischen Substantiven und Anwaltspapieren verschanzen und gegen seinen Schmerz Ansprüche für Sachgegenstände geltend machen. Warum fragt niemand nach der Zurechnungsfähigkeit verletzter Gefühle und Liebe?
    Wie diese Geliebte von Gottfried Benn auf einem Brustschmuck herumreiten kann! Und ist sie überhaupt seine Geliebte? Dann gibt es wohl zwei, denn die eine, meint Ohlrogge sich zu erinnern, hieß Ursula und ging doch nach Berlin!
    Er überlegt sogar, einen Brief an Gottfried Benn höchstpersönlich zu schreiben, ob er einmal Stellung nehmen könne, Ursula und wer noch in Worpswede? Hatten Sie mal was mit einer »Henriette K.«? - Vielleicht würde er eine Affäre mit dieser Worpswederin abstreiten und sich damit der Wert des verdammten Brustschmucks um ein Vielfaches reduzieren, aber dann kommen weitere Rechnungen und Forderungen mit schlimmen Zahlen und kalten Substantiven, sodass er von seinem Gottfried-Benn-Brief ablässt, ohne zu wissen, dass der sowieso schon längst tot ist, was man allerdings auch nicht ahnen kann, da die Klägerin so tut, als wäre sie immer noch die aktuelle Gottfried-Benn-Geliebte.
    Stattdessen stellt er nun Rückfragen, um nicht alles hinzunehmen, was man von ihm fordert: Wie viel vom Büfett war schon angeschnitten oder verzehrt, als er die Ventile öffnete, und wieso werden sämtliche Torten in Rechnung gestellt? Warum wird der von ihm beantragte Mengenrabatt bei der Reinigung nicht berücksichtigt, immerhin hat er für den Großauftrag gesorgt, aber wohl schlecht die verunreinigten Textilien bei den Worpswedern

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