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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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ihn sein Vater.
    »Ich mache Urlaub«, antwortet er und sagt, dass er beim Putzen und Polieren Ruhe und Erholung finde. In Wahrheit bekommt er bei jedem Lauenburger Paar, das er aus der Ablage reparierter Schuhe nimmt, Angstzustände. Es gibt Namensschilder an den Lauenburger Schuhen, er weiß immer, welchem Kunden er gerade die Schuhe putzt. Einmal fällt ihm auf, dass er die Schuhe seiner früheren Jugendliebe Inge Wichmann in den Händen hält. Vor ihm stehen auch Kinderschuhe: Größe 23 und 34, dazu Herrenschuhe, Größe 44, alle in der Ablage unter Inge Wichmann.
    Nach zwei Monaten, in denen er sich mehr und mehr hinter den weißen Gardinen seiner Eltern abtötet, kehrt er an den Rand von Worpswede zurück - einen neuen Versuch startend, das Leben wiederzufinden.
     
     
    Peter Ohlrogge sprang mit einem Satz vom Barhocker des Don-Camillo-Clubs. Sylwia, eine Frau aus Polen, kam aus einem der Zimmer, auf dem sie mit zwei Parkinsons gewesen war. Sie lehnte sich an die Bar, zog ihren Lippenstift nach und sah mit leeren Augen in Ohlrogges kalt gewordenen Fencheltee.
     

Die erste Nacht nach langer Zeit
    Es regnete immer stärker und Paul lag lange wach in seinem Jugendbett, das eigentlich ein Hochbett war. Es stand auf eckigen Holzpfeilern, auf die Paul als Kind bestanden hatte, weil er zwischen sich und dem Moor einen größeren Abstand haben wollte.
    Gegenüber vom Bett hing das alte Bild vom Haus, »Herbststurm über deiner Moorkate (1967)«. Ein früherer Freund seiner Mutter, ein Versager, ein Kranker, ein Verrückter, wie es hieß, hatte es gemalt und ihr geschenkt. Paul hielt die kleine Bettlampe auf das Bild. Ihm war es früher nie aufgefallen, aber das Haus war plötzlich ganz klein unter einem Himmel, der wie eine unendlich große Macht über das Land hinwegeilte. Paul richtete sich auf, weil er dachte, die Wolken würden sich bewegen. Er saß da in einem alten braunen Schlafanzug von Nullkück, den dieser noch zusammen mit der frischen Bettwäsche gebügelt hatte, und starrte auf das Bild: Wie winzig, wie unbedeutend das Haus, das einmal seine Kindheit, seine Welt gewesen war - wie unbedeutend und lächerlich überhaupt das ganze kleine Leben, wenn darüber so ein Himmel stürmte! Es beruhigte ihn. Berlin, seine Projekte, sein Weg, die Karriere! -Vielleicht konnte man das alles leichter nehmen?
    Er leuchtete mit der Lampe in das dunkelblaue Regal, in dem nur noch acht Bücher standen. »Serafin und die Wundermaschine«, eine Geschichte, die Paul als Kind geliebt hatte, weil sich Serafin, der Fahrkartenknipser, mit der Wundermaschine eine Treppe in die Wolken baute, um wegzulaufen.
    »Die Schneekönigin«, die einen Jungen entführte, dem ein Splitter vom bösen Zauberspiegel ins Auge geraten war, sodass er in der Königin nur das Schöne sah. Er musste in ihren hundert kalten Eissälen leben, wo sie ihn täglich küsste und sein Herz beinahe erfror. Auf der ersten Seite war eine Widmung: Frieren. Eis werden. Weinen. Auftauen. Fließen. In die Welt gehen. Von Deinem Onkel P. H. H. (Paul Hinrich Hinrich).
    Daneben stand ein Buch über John Lennon und Yoko Ono mit den berühmten »Bed-In«-Interviews, die das Paar eine Woche lang direkt aus dem Bett in Amsterdam mit Reportern geführt hatte, angeblich für den Frieden. »Rembrandt als Erzieher« von Julius Langbehn, uraltes Buch, klang langweilig. »Die Buddenbrooks. Verfall einer Familie« in der Ausgabe des Großvaters, in die er hineingeschrieben hatte: »Einer von uns aus dem hohen Norden!«.
    Das Buch »Unser Teufelsmoor« war mehr eine Broschüre, die auseinanderfiel, als Paul darin blätterte. Er las eine Seite über die Torf- oder Bleichmoose des Moores, die alles, was im Moor lag, gut konservierten. Danach las er eine Seite über die Moorfunde selbst, die man beim Torfstechen in Heudorf, Tiste, Wilstedt, Hüttenbusch, Breddorf und zweimal in Frankenborstel entdeckt hatte:
     
    Nomadische Jäger und Sammler, zum Tode verurteilte oder den Göttern geopferte Germanen, die gefesselt ins Moor geworfen wurden. Sachsen, Wikinger, Schweden, kaiserliche und napoleonische Truppen, die alle ins Moor gelockt wurden und versanken. Verunglückte Torfbauern und Kinder, mit Morast gestopfte Hexen, vergewaltigte Frauen und andere, die alle in unserem Teufelsmoor herumliegen wie geräucherte Schinken.
    Daneben standen die Bücher »Kartoffeln mit Stippe« von Ilse Gräfin von Bredow, Gorch Focks »Seefahrt ist Not« und »Am Anfang war der Wasserstoff« von Hoimar

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