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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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von Ditfurth. »Die Sagen der Germanen« waren weg, stattdessen gab es jetzt das Buch »Die Funktion des Orgasmus« von Wilhelm Reich, das Paul entweder in seiner Kindheit übersehen oder seine Mutter bei einem ihrer Besuche dort hingestellt hatte.
    Paul war bis in die Nacht damit beschäftigt, Spinnen zu fangen, die er in Klopapier zerdrückte und die Toilette runterspülte. Dann hörte er dem Regen zu, wie er gegen die Fensterscheiben prasselte. »Hinterm Weyerberg scheint der Mond hervor / Und der Nebel steigt aus dem Teufelsmoor«, das hatte seine Großmutter abends für ihn gesungen. Er sah auf das Handy. Keine Nachricht von Christina aus Barcelona. Er schrieb:
     
    Liege in meinem kindheitsbett mit alten bilderbüchern. Dein handy ist aus. Paul.
     
     
    Der norddeutsche Herr Brüning (Der zweite Lag im Moor)
     
    Am frühen Morgen des zweiten Tages wachte Paul durch eine Bodenprobe auf. Jan Brüning, Chef der Worpsweder Baufirma Karl-Ernst Brüning, stand direkt am Fenster mit einer riesigen Lanze in der Hand und sah zu, wie Paul die Augen aufschlug.
    Vorhänge hatte es unter den Künstlern in Worpswede nie gegeben!, war Pauls erster Gedanke, als er in Brünings blassblaue Augen sah, an Vorhänge konnte er sich nicht erinnern, nur die Bauern und Handwerker hatten Gardinen. Man konnte überhaupt die Einwohner von Worpswede in Menschen mit Gardinen und in Menschen ohne Gardinen unterscheiden.
    »Moin«, sagte Paul und hielt sich beim Aufstehen die Decke vor den Körper.
    »Moin«, sagte Brüning und lief mit der Lanze weiter den Garten ab: kugelrunder Körper im dunkelblauen Arbeitskittel, dazu eine gleichfarbige, filzartige Bauernmütze.
    Mein Gott, der kommt ja mitten in der Nacht!, dachte Paul, dem ein Arbeitsbeginn um Punkt sieben bewundernswert erschien, zudem hatte er wieder das schlechte Gewissen, unredlich zu sein, lebensfern, nicht auf den Punkt. Er kannte dieses Gefühl aus Berlin, wenn Stromableser oder Handwerker im Auftrag der Hausverwaltung in aller Herrgottsfrühe vor der Tür standen und ihn in der übergeworfenen Notkleidung ansahen wie etwas Unnützes, Sonderliches, Fremdes, wie etwas aus der Herde Ausgestoßenes. Paul bekam dieses Gefühl ebenso regelmäßig bei Omnibussen, die er verpasste. Oder U-Bahnen, auf deren Türen er noch zurannte, die sich aber vor ihm schlossen mit einem Signal, und in denen er innen die Gesichter der Menschen sah mit diesen Ausdrücken vermeintlicher Feststellungen: Der ist nicht hereingekommen, der gehört nicht zu uns, er hat es nicht geschafft, er hat sich nicht im Griff, so ist sein Leben - da steht er nun.
    Paul hatte sich schnell angezogen und auch die Krawatte umgebunden mit dem alten Knoten. So lief er in den Garten.
    Nullkück ging bereits putzmunter neben Brüning auf und ab, überprüfte ebenfalls die Bodenverhältnisse und spannte das Seil von Luther an der alten Eiche nach.
    Jan Brüning stampfte mehrmals mit seinen Gummistiefeln auf dem Grund herum, bis der ganze Moorboden wackelte. Dann runzelte er die von Wind und Wetter gerötete Stirn und schwieg.
    »Ist so weit alles in Ordnung?«, fragte Paul vorsichtig in die Stille hinein.
    Brüning nahm ein Stofftaschentuch aus der Hose, schnäuzte sich gründlich und stopfte das Tuch wieder zurück. Dabei ließ er seinen Blick Quadratmeter für Quadratmeter über den Garten streifen, auch schien er Nullkücks Konstruktion zu betrachten und die an der Eiche angeseilten Männer.
    Er antwortete nicht. Langes Schweigen.
    »Ja, ja, der alte Garten«, sagte Paul etwas hilflos und fügte nach einer weiteren Pause hinzu: »Interessanterweise hat in diesem Garten einmal der Erfinder des koffeinfreien Kaffee-HAG mit Großvater gesessen, da drüben, da war der Tisch. Meine Großmutter sagte immer: Kaffee-HAG schont das Herz.«
    Es begann zu regnen. Nullkück spannte einen hellblauen Schirm auf und hielt ihn über Brüning, Paul und sich. So standen sie da, alle schweigend, während der Regen auf den Schirm prasselte.
    »Nee, so geiht dat nich!«, brach es plötzlich aus Brüning heraus, er riss mit einem Ruck wieder sein zerknittertes Stofftaschentuch aus der Hose, um sich erneut kräftig zu schnäuzen, beide Nasenflügel mit der Hand abzureiben und danach ohne weitere Erklärungen zu schweigen.
    »Hm«, bemerkte Paul. Er dachte darüber nach, wie lange es wohl dauern würde, bis auch er die norddeutsche Langsamkeit und das Schweigen in sich aufgenommen hätte. Nach einer Weile überlegte er, ob sich Brünings »Nee,

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