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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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und die Hochzeitsgesellschaft: auf Johanna, die Braut, auf Ulrich Wendland, den Bräutigam, auch mit so einer angepassten Pilzkopffrisur, auf die komplette Verwandtschaft und halb Worpswede inklusive Frau Schröter und der historischen Skulpturen von Bismarck bis Rilke, Ringo Starr und Schliemann. Er steht der ganzen Gesellschaft vielleicht zehn Sekunden bewegungslos gegenüber wie in dieser Szene aus »Spiel mir das Lied vom Tod« mit Henry Fonda und Charles Bronson, nur die Mundharmonika fehlt. Dann öffnet er alle Ventile und spritzt, diesmal beidhändig, 2.000 Liter in zwei Minuten bei einem Druck von acht Pascal. Danach stellt er noch um auf das automatische Prallkopf-
    Verteilgerät und verlässt die Hochzeit zu Fuß, während die restlichen 500 Liter aus dem Tank in einer Arbeitsbreite von 25 Metern grobtropfig verteilt werden.
     
    Es wird Herbst (Über Eifersucht, Demütigung, Krankwerden)
     
    Zwei Monate nach der Trennung und zehn Tage nach der Aktion mit der Gülle bekommt Ohlrogge Post. Er könne seine Bilder in der Galerie abholen, das Programm habe sich geändert, man müsse sich jetzt NEUEREN ZEITGEISTSTRÖMUNGEN zuwenden. Normalerweise hätte man einem Künstler mit so einer irren Gülle-Aktion sofort alle Türen geöffnet und in ihm die absolut neuesten Strömungen vermutet, aber in Worpswede wenden sich alle ab. Zudem kommen die ersten Anzeigen wegen Diebstahl landwirtschaftlicher Fahrzeuge, Vandalismus, Beschädigung und Verunreinigung fremden Eigentums, Verstoß gegen die Düngeverordnung, diverse Schadensersatzforderungen, ebenso vom Hof Wellbrock, Ohlrogge hat gar nicht geahnt, was Scheiße, wenn sie juristisch wird, plötzlich kostet. Drei Wochen später, als er durch das Dorf läuft, sieht er das Plakat der neuen Ausstellung bei Schröter: »Hasenmenschen im Zeitalter der Angst«.
    Er fährt nach Hause, wartet auf Regen und zieht seine dunkelgrüne Schutzkleidung mit der riesigen Kapuze an. Er fährt nach Worpswede zurück und läuft an Frau Schröter vorbei wie ein Frosch in die Ausstellung.
    Da ist er also, der gefeierte Künstler, der mit seinen angreifenden Lockenwicklern, den schlagenden Kochlöffeln und blöden Pürierstäben die neueren Strömungen bedient, lustig die Welt anklagt, sich aber höchst diplomatisch durch die Künstlerkolonie bewegt. Er zieht nicht nur in die große Villa der Kücks, schläft ungestört mit der Tochter des Hauses, schwängert sie sofort, heiratet sie sogar, sondern er bekommt jetzt auch noch für seine Hasenmenschen die Wände leergeräumt, wo eben noch die zeitlosen Himmelbilder von Peter Ohlrogge hingen!
    Im Eingangsbereich hängt neben einem kurzen Grußwort von Horst Janssen die Ausstellungskritik der Hamme-Nachrichten:
     
    Man fühlt sich unweigerlich an Goya erinnert, an die »Los Caprichos« des spanischen Malers, an das Bild »Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer« und auch Ulrich Wendland zeichnet, was ihn verstört, was ihn ängstigt, was er tagträumerisch sieht. Wendland ist der neue Goya unserer Zeit, der auch in künstlerischer Verbindung zu dem Star-Zeichner Horst Janssen ...
     
    Ohlrogge liest nicht weiter, er reißt vor Hitze fast seine Froschverkleidung herunter. Was für eine Anmaßung, Wendland mit Goya zu vergleichen, denkt er, was für ein widerlicher Superlativ! »Man fühlt sich unweigerlich an Goya erinnert«, wer ist denn »man«? Alle?! Müssen sich jetzt alle unweigerlich an »Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer« erinnert fühlen oder geht es auch eine Nummer kleiner?! Und muss man da auch noch Horst Janssen oben draufpacken!? Ohlrogge ist kurz davor, Frau Schröter seine Fragen an den Kopf zu werfen.
    Als sie mit einem Wendlandkunden ins Gespräch kommt, passt er den richtigen Moment ab und spuckt auf den neuen Goya der Zeit. Er spuckt aus innerer Notwendigkeit, aus Wut, Hass, Verachtung und aus Ekel vor einer maßlosen Welt, die jene, die im Licht stehen, vergöttert und die, die es auch einmal gegeben hat und die auch geliebt worden waren, vergisst, entsorgt, ja, wie ein altes Bett aus der Welt herausschiebt. Er spuckt um sein Leben.
    Danach fährt er mit dem Fahrrad hinter die Ortsgrenze nach Hause und legt sich ins Bett. In den nächsten Wochen wird er immer dünner, blasser und kränker.
    Er schreibt Briefe an Johanna, sendet sie in den Teufelsmoordamm 5:
     
    Liebe Johanna!
    Warum hast du mir diese Liebe eingeflößt und lässt mich dann allein? Verzeih mir, was ich tat. Keine Nacht finde ich mehr Schlaf.

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