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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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Willy Brandt den Angaben zufolge nur zur Hälfte gegessen hatte, weil er schnell weitermusste nach Bonn wegen dieser Spionagesache. Sie hielt Pauls Vater das Stück unter die Nase wie das Schweißtuch der Veronika.
    »Janssen ist gar nicht frauenfeindlich, er liebt die Frauen, er zeichnet jeden Tag eine andere! Johanna, das ist ja lächerlich mit diesem Stück Kuchen! Mein Gott, worüber reden wir eigentlich? Ich habe doch nur gefragt, ob wir unser ganzes Leben in diesem Garten bleiben müssen oder ob es vielleicht möglich wäre, auch mal woanders hinzugehen. Das mit Schwabing und München war nur ein Vorschlag«, sagte er, langsam ermüdend.
    Natürlich hätte man ihn im Kampf gegen den Kapitalismus gerade in den größeren Städten gebraucht, dachte Paul damals, als er seinen geschlagenen Vater betrachtete, in Worpswede gab es nicht mal ein Kaufhaus. Oft beobachtete er seinen Vater, wie er im Moor saß mit dem Otto-Katalog, um sich von Waren anregen zu lassen, die seine Hasenmenschen verfolgen könnten.
    Pauls Vater beugte sich wieder über seine Zeichnung: Eine riesige Wanne mit dampfendem Kaffee, in dem die Hasenmenschen um ihr Leben kämpften. An den Rändern der Wanne saßen Jacobs- und Kaffee-HAG-Soldaten und kippten immer mehr in die Todeswanne.
    Inspiriert zu dieser Todeswanne hatte ihn die neue Freundin von Johanna, Lena Jacobs aus Bremen, hübsch, aber nach Karl Marx ökonomisch imperialistisch, Tochter des Kaffeeherstellers Walther Jacobs. Pauls Großvater war begeistert. Erst Roselius mit dem Kaffee-HAG, jetzt Jacobs, die Krönung, die gesamte Spitze des deutschen Röstkaffees gab sich bei den Kücks die Klinke in die Hand.
    »Ich möchte nicht, dass du die Familie meiner Freundin für deine Botschaften benutzt«, sagte Pauls Mutter.
    »Aber sie bringen uns alle langsam um, die Kapitalisten!«, erwiderte sein Vater.
    Paul saß nach wie vor eingekeilt auf der Gartenbank und fand es komisch, dass sein Vater selbst aus einer Tasse den gefährlichen Kapitalismus trank.
     
    Nullkück lächelte immer noch. Es schien, als warte er auf die nächste Frage.
    Am Tag zuvor, als Paul mit dem Bus aus Bremen angekommen und den Rest zu Fuß gelaufen war, hatte er ihn bereits in seinem Zimmer sitzen sehen, am kleinen Tisch vor dem klobigen Computerbildschirm, das Gehäuse war ganz verdreckt und verklebt. Unter dem Tischchen ragte der mächtige Tower hervor und ein etwas modernerer Farbdrucker. Ganz vertieft saß Nullkück da in seiner Cordhose mit Hosenträgern und mit einem seiner milchgrauen Leinenhemden. Manchmal druckte er etwas aus.
    »Du bist wohl viel online, was?«
    Nullkück zog die Hosenträger nach vorne, ließ sie lässig zurückschnellen und sagte so locker und flüssig, wie es Paul noch niemals zuvor von ihm gehört hatte: »Flatrate, Flatrate.«
    Paul zog wieder am Knoten seiner Krawatte. Was für eine Enge er spürte. Dieses Moor, das einem die Turnschuhe einbetonierte, wenn man nicht aufpasste. Die Erinnerungen an das ewige Elternstreiten, das einem die Seele zerfressen konnte. Dieses kleine, traurige Leben von Nullkück. Bei ihm wusste man nicht einmal, ob er von Hilde geboren, gefunden oder geklaut oder doch von Mackensen, dem Koloniegründer, gezeugt worden war. Und dieser Eichenschrank, in dem Paul geboren worden war und der jetzt nach und nach im Moor absackte. Und der ihn wieder daran erinnerte, dass das Wichtigste an seiner Geburt die Demonstration der »Beckenfreiheit« und der archaischen Kulturen gewesen war. Wie konnte man nur bei der Niederkunft eines Menschen in einem Eichenschrank an einer Kleiderstange hängen, die eigentlich eine Vorderachse war aus dem Dritten Reich, und dann von »Beckenfreiheit« sprechen, dachte Paul.
    Er riss sich die Krawatte über den Kopf. Atmete. Eine bestimmte Bewegung, eine Berührung seines Vaters kam ihm in den Sinn.
     
    Es war bei der Beerdigung der Wendland-Großmutter in München gewesen. Sein Vater band ihm noch diese dunkelblaue Krawatte vor der Aussegnungshalle auf dem Nordfriedhof. Er band zwar nur einen Knoten, aber so wie die Hände des Vaters ihn dabei berührten, während sie das eine Ende durch die Schlaufe führten: Paul hatte es als eine der größten Zärtlichkeiten empfunden und nie vergessen. Vielleicht löste er deshalb nie ganz den Knoten, dachte er.
    »Du hättest nicht extra kommen müssen«, sagte sein Vater, als er die Krawatte fertig gebunden und den Knoten zugezogen hatte.
    »Sie war doch meine Großmutter«, antwortete Paul.
    Sein

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