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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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der Lebensversicherung zahlen, die sie ihm zu seinem 18. Geburtstag überschrieben hatte, weil sie der Meinung war, dass von solchen Policen negative Schwingungen ausgingen. Wer das Leben versichern wolle, ziehe den Schaden an, darum fuhr sie stets unangeschnallt Auto. Vermutlich ging auch von Fahrbahnmarkierungen eine negative Schwingung aus, von einer geschnittenen Kurve hingegen oder einem Lanzarote-Kreisel, in den man einfach hineinraste - die reinste Lebensbejahung. Paul hatte sich die Versicherung über 20.000 Euro auszahlen lassen und als Startkapital für die Eröffnung seines Galerieraumes und die Mieten von monatlich 450 Euro bereitgestellt, so lange bis sich der Verkaufsraum von selbst tragen würde. Was davon übrig bliebe, könnte er für andere Dinge verwenden, zum Beispiel für die Gründung einer Familie - irgendwann einmal.
    Paul griff nach seinem Handy in der Jackentasche. Keine SMS von Christina. Er wandte sich unter dem Regenschirm leicht von Brüning und Nullkück ab und tippte schnell:
     
    Habe sorgen und Sehnsucht. Dein paul.
     
    »Schall ik faxen?«, fragte Brüning, »Kostenvöranslag faxen?«
    »Haben wir denn Fax?«, gab Paul die Frage an Nullkück weiter, der daraufhin energisch »Mailen!« ausrief.
    »Mailen macht Tille, meine Frau«, entgegnete Brüning, »ich fax lieber, so maakt wi dat!«
    Er nahm einen Zettel mit [email protected] entgegen, zog blitzschnell wieder sein Stofftaschentuch heraus, schnäuzte sich noch einmal, wie zum Abschied und Finale dieser norddeutschen Sinfonie, und ging.
    Nullkück hatte den offenen Schirm unter den Arm geklemmt und die Daumen über dem Bauch in seine Hosenträger gedreht. Er sah aus wie jemand, der zufrieden war mit sich und dem Verlauf der Geschäftsverhandlungen.
    »Was mailst du denn so?«, fragte Paul.
    Nullkück lächelte. Er hatte eine zarte und schöne Freude, wenn ihn jemand etwas fragte und überzeugt zu sein schien, dass auch der Nullkück an der Welt teilnehme. Er machte ein geheimnisvolles Gesicht und zupfte gleichzeitig verlegen an seinen Hosenträgern wie Charlie Chaplin.
    Diese Verlegenheit, dieser tastende Stolz, obwohl die anderen über ihn lachten - erinnerte sich Paul. Langsam stiegen die alten Bilder wieder auf.
     
     
    Elternstreit (Und nie gelebte Vatertage)
     
    Nullkück hatte im Garten gestanden und an seinen Hosenträgern gezupft, während die anderen erst lachten, dann stritten, bis er wegrannte, weil er spürte, dass er der Grund war für den Streit: Wieder hatte er mit dem Hanomag R16 für die benachbarten Bauern Heu gewendet und einen Liebesbrief aus voller Fahrt abgeworfen.
     
    Liebe Rieke.
    Schon lang beobachte ich Dich auf dem Feld bei Renken. Du bist die schönste Tochter vom Tietjen und es macht mich rasend, wie Deine Beine in der Pause vom Strohballen baumeln. Leider kann ich den ganzen Sommer nicht halten. Warten wir bis Herbst, wenn die Blätter fallen. Vielleicht steige ich dann herab von meinem Hanomag.
     
    Nullkück, 1973
     
    »Seid ihr eigentlich wahnsinnig?«, meinte Pauls Vater. »Irgendwann fährt der eine um, irgendwann sterben hier junge Landarbeiterinnen!«
    »Die sterben nicht«, erklärte Pauls Mutter, »im Gegenteil, die blühen auf, wenn die so einen Brief bei der Landarbeit zugeworfen bekommen!«
    »Lass uns weggehen, Johanna, nach München, die sind doch hier alle schwachsinnig. Was soll das sein, ein Agrar-Rebell? Wenn ausgerechnet der debilste aller Kücks den ganzen Tag Trecker fährt und flammende Briefe abwirft?«, fragte sein Vater.
    »Ich geh hier nicht weg! Lass ihn doch Trecker fahren und flammende Briefe abwerfen!«, antwortete seine Mutter. »Glaubst du, du bist ein besserer Rebell mit deinen Sachen, die du in Galerien wirfst? Am Ende, wenn die Landarbeiterinnen dieser Gegend alt geworden sind, dann haben sie sehr besondere Liebesbriefe. Aber von dir, was werden die Arbeiterinnen von dir gehabt haben? Ein Liebesbrief, der rettet mehr die Welt als alles andere!«
    Pauls Vater kam aus München, er hatte sich vorgestellt, mit Johanna irgendwann zurückzugehen in seine Heimat, doch sie wollte nicht.
    »Johanna, du musst dich aus diesen bäuerischen und familiären Verkrustungen lösen«, forderte er. »Wie wäre es, wenn wir mit oder ohne Kind erst einmal für eine Zeit nach Berlin oder München gehen, in die Zentren der Bewegung?«
    Paul saß mit am Gartentisch und verfolgte wieder einmal eine Diskussion seiner Eltern, in der sie »mit oder ohne Kind« sagten, und er fragte

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