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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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Strohhut und ihrem hellen Haar. Sie sah ihn direkt an. Es war, als öffnete sich alles, als würde sie immer größer, als käme sie auf ihn zu und nähme ihn mit ins Bild.
     
     
    Frühjahr 1944 auf der Treppe bei Stolte: Der Kolonievater trifft eine junge Frau
     
    Fritz Mackensen, der berühmteste der Worpsweder Maler, lief gerade über die Steintreppe vom Kram- und Aussteuergeschäft Stolte, um für ein Abendessen mit den Kulturgauleitern von Niedersachsen und Weser-Ems die passenden Weine zu beschaffen. Er wollte soeben die Türklinke herunterdrücken, als sie ihm entgegentrat: hochgewachsen, in schlanker Gestalt, mit tiefblauen Augen, langen, ungewöhnlich blonden Haaren sowie mit einem großen, energisch gezeichneten Mund, der sofort Hingabe versprach.
    Mackensen wich ein paar Schritte zurück, die Hand hielt er für Stoltes Türklinke vorgestreckt, doch innerlich sah er schon die Farben: Kobaltblau, Pariser- oder Preußischblau, am besten Azurit (Augen!); Neapelgelb, Leipziger oder Zwickauer Königsgelb, vielleicht aber auch Chromgelb mit Safran (Haare!); Spanischrot mit viel Zinnober, am besten nur Zinnober (Kleid!) ... Er stand wie angewurzelt auf der Steintreppe, die aus dem ältesten Findling von Worpswede geschlagen worden war: Wie lange ist es her, fragte er sich, dass ich eine Frau getroffen habe und sofort innerlich meine Farbpalette durchgegangen bin?
    »Guten Tag, ich bin Mackensen, ich werde Sie malen! Hundert Reichsmark sollen Sie bekommen«, erklärte er und dachte: Fritz, du musst sie sofort auf die Leinwand bringen, bevor du alt wirst! Mal sie, gleich so wie sie da steht, auf Stoltes Steintreppe gegenüber der alten Blutbuche! Oder vor einem Moorgraben, Treppen lagen ihm eigentlich nicht, aber mit Moorgräben war er der Beste, der Berühmteste!
    Er hatte immer noch seinen aufgezwirbelten Schnurrbart von früher, das scharf geschnittene Gesicht und den AnSpruch, als Gründer der Kolonie das künstlerische Oberhaupt zu sein, dem nicht nur die größte Ehre gebührte, sondern auch alle Bauernmodelle, ganz zu schweigen von den Malschülerinnen, die er sich in den Wiesen beim Unterricht nahm.
    Die junge Frau verbeugte sich leicht und schüttelte die vorgestreckte Hand des Meisters. Mit der anderen Hand hob sie sogar leicht das rote Kleid, das ihr Ehemann bei seinem letzten Besuch als Geschenk mitgebracht und das sie nun vor dem Gang ins Dorf angezogen hatte, damit es gegen ihre Traurigkeit anstrahlte, gegen diese Zeit ohne Mann, nur mit Krieg und Angst.
    Mackensen führte die Frau kurz entschlossen zurück in das Geschäft, kaufte einen Strohhut und setzte ihn behutsam auf ihren Kopf. Dann notierte er ihr Tag und Uhrzeit für eine erste Sitzung am Nachmittag in seinem Atelier, Villa Susenbarg am Westhang des Weyerbergs.
     
    Hilde ließ sich von den Ereignissen bei Stolte bis ins Detail unterrichten. Nun war sie die Einzige der Kückfrauen, die in ihrem Leben nichts Außergewöhnliches aufweisen konnte außer einer hässlichen Brust, die sie sich aus Bitterkeit und Wut über ihre Unfruchtbarkeit zerschnitten hatte. Greta war die Frau des Staatskünstlers Paul Kück geworden. Und Marie sah der Laufbahn als vielleicht letztes Modell des Worpsweder Großmalers und Kolonievaters entgegen! Mackensen machte Marie sogar das Angebot, in seiner Villa Hausarbeiten zu verrichten und bei hohen Gesellschaften Wein auszuschenken. Nur bei Hilde blieb es dunkel.
    »Du hast doch ein interessantes Gesicht«, sagte Greta, als sie Hilde vor dem Spiegel weinen sah und ihr die Tränen von den hervorstehenden Wangenknochen strich. »Du musst dich ihm auch zeigen. Er geht jeden Tag zu Stolte, um seinen Wein zu holen. Ich begleite dich. Warum sollte er uns nicht alle malen?«
    Am nächsten Tag lauerten sie dem Maler auf der Steintreppe auf. Hilde trug ohne Umschweife ihr Anliegen vor, ob es nicht interessant wäre, sämtliche Kückfrauen zu malen, gewissermaßen eine Serie, erst einzeln, dann alle zusammen als »Triptychon«, sie konnte es kaum aussprechen. »Also, drei Kückfrauen in einem Bild!«, so etwas Ähnliches hatte sie sich vorher in einem Albrecht-Dürer-Katalog bei Paul Kück im Atelier angeschaut, doch Mackensen lehnte ab. Er lehnte sie ab und Greta gleich dazu.
    »Diese Marie, diese Augen, dieses Blau, das seine Farbe wechselt wie das Meer! Nordsee! Azurit, vielleicht lege ich noch echtes Ultramarin drüber!«, schwärmte er. »Diese Haare! Sonnenhaar, Engelshaar!« Gleich danach sagte er: »Feingoldenes

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