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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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Vater wollte noch etwas sagen, er setzte kurz an: »Weißt du, Paul...« - dann schwieg er. Er steckte ihm Geld oben ins Jackett, es war das erste Mal, Paul konnte sich nicht erinnern, jemals Geld von seinem Vater bekommen zu haben. Früher ja, für ein Eis bei »Dolomiti«, für das Kettenkarussell und Zuckerwatte auf dem Erntedankfest. Später kamen Geschenke zum Geburtstag, kleine Päckchen mit Autos aus Amerika, Spielautos, Paul war vierzehn, aber der Vater schickte Spielautos. Irgendwann kamen keine mehr.
    Seine Eltern trennten sich, da war Paul sieben. Der Vater ging nach Amerika, ausgerechnet ins Feindesland, das am schlimmsten seine Hasenmenschen verfolgte. In Amerika entwickelte er sich zum Werbegrafiker bei der Chrysler Company und entwarf Logos im Auftrag von Lee Iacocca, dem berühmten Automobilmanager. Er heiratete, zeugte vier Kinder, nahm die amerikanische Staatsbürgerschaft an und liebte Michigan, Paul hatte keinen Kontakt mehr zu ihm.
    In München war ihre letzte Begegnung. Sie saßen nebeneinander in der Aussegnungshalle, Paul mit seiner blauen Krawatte, der Vater leise weinend. Es war das erste Mal, dass er ihn weinen sah. Er nahm seine Hand und hielt sie. Ein Vogel hatte sich oben unter der hohen Decke der Kapelle verirrt und rief um Hilfe, sodass die Trauerrede auf die Großmutter im Hall der Vogelrufe unterging.
    Am Abend wollte der Vater zurück nach Michigan fliegen, Paul hatte nicht viel Zeit, um ihm näherzukommen. Vielleicht nahm er deshalb seine Hand. Er hatte ihn verloren und dieses stille Handhalten war besser, als ihn in wirklichen Begegnungen, Gesprächen und zum Ausdruck gebrachten Gefühlen wiederfinden zu wollen. Vielleicht wäre so ein Versuch noch trauriger gewesen, wenn Paul festgestellt hätte, dass es nichts mehr zu sagen gab, dass all die Zeit eine zu große Entfernung war; wenn das Schweigen, das sie Hand in Hand miteinander teilten, ein Schweigen geworden wäre, das um Worte und Anschluss zueinander rang. Jetzt konnte es Paul bei der unzerstörten Erinnerung belassen, sein Vater habe ihn doch geliebt und nur durch die Trennung einen Bruch mit der alten Welt machen müssen. Es war ein seltsames Glück.
     
    Paul hielt seine Hand und in diesem Halten und im zärtlichen Binden des Knotens zuvor waren gemeinsame Vater-Sohn-Reisen, Picknicks auf sommerlichen Wiesen, still auf dem Schoß sitzen, Baumklettern, vorlesen, kleine Ringkämpfe, Drachen steigen lassen, in die Wellen springen, Schlitten fahren, umfallen, weinen, gehalten werden ... lauter nie gelebte Vatertage.
     
    Nullkück stand immer noch so da, als warte er auf eine weitere Frage. Paul ging in seinem Handy auf »Gesendete Objekte« und schickte Christina zum zweiten Mal:
     
    Habe sorgen und Sehnsucht. Dein paul.
     
    »Hast du eigentlich auch Angst vor der alten Scheune?«, fragte er und zeigte auf den geheimnisvollen Ort, den er als Kind gemieden hatte, weil auch seine Mutter einen Bogen um die Scheune machte. »Da drin soll es gespukt haben, da waren doch die Seelen drin, vor denen man sich in Acht nehmen musste.«
    Nullkück sah ihn an, sein Blick war ernst, die Mundwinkel zitterten. Er zog einen rostigen Schlüssel aus seiner Cordhose und rannte auf die alte Scheune zu. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Dann riss er die große Tür auf, die so knarrte, quietschte, ächzte und tönte, als würde sie schreien wie ein Mensch.
     

Die Mariegeschichte
    Am Vormittag wanderte Paul über den Weyerberg und die Lindenallee in die Große Kunstschau. Er hasste zwar die ganzen Moorbilder, aber oft waren dort Schulklassen oder Schülerinnen von Akademien und dann war das Museum belebt von jungen Frauen, denen man erzählen konnte, dass man direkt aus Worpswede kam, Hausgeburt!, und obendrein Enkel vom Rodin des Nordens war. Paul kannte Geschichten von Nachkommen, die vor den Moorbildern ihrer Ahnen fremde Frauen abschleppten. Er blieb vor der Kunstschau stehen und strich mit der Hand über das Findorff-Denkmal seines Großvaters. Der Moorkommissar stand immer noch da wie früher mit seinen eingedrehten Bronzelocken.
    Es war Dienstag und niemand da außer ein paar älteren Damen, die sich bei der Kasse als Malgruppe aus Oldenburg anmeldeten, mit Gruppenrabatt. Paul flüchtete an den großen Moorbildern vorbei in den hintersten Raum, dann blieb er stehen - da war sie, er hatte das Bild schon ganz vergessen.
    Die glühende Frau aus Großvaters Garten: Marie.
    Sie stand vor ihm, in einem roten Kleid, mit

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