Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
Vom Netzwerk:
sich, ob er das Kind sei und was dann aus ihm werden würde.
    »Man muss ja eher Worpswede als ein Zentrum der Bewegung bezeichnen und nicht Bayern«, rief seine Mutter. »Bayern, soll das ein Scherz sein? Wenn es schwachsinnige, bäuerische und familiäre Verkrustungen gibt, dann ja wohl in Bayern!«
    »Pass mal auf«, konterte sein Vater, »wir in Schwabing haben auch eine Künstlerkolonie! Wir haben den Blauen Reiter gegründet, weißt du, was das ist, der Blaue Reiter? Das war eine Künstlergruppe mit Kandinsky und Klee, die kennt man heute noch, aber wen kennt man denn aus eurer Minikolonie? Hier gibt es ja nicht mal so was wie Uschi Obermaier!«
    Diese Uschi Obermaier hätte sein Vater nicht wieder erwähnen dürfen, dachte Paul, er saß eingekeilt zwischen seinen Eltern auf der Gartenbank.
    »Du denkst wohl, alle finden deine blöde Schwabing-Schlampe toll! Ich kann ja auch mal mit Ringo Starr oder den Rolling Stones schlafen, glaubst du, das ist schwer?«
    Dafür müsste sie allerdings Worpswede verlassen, die kommen bestimmt nicht hierher, überlegte sich Paul.
    »Ich habe nie gesagt, dass ich die toll finde, ich finde den Frauentyp, den sie verkörpert, für meine Arbeit interessant: Die flache Silhouette«, lenkte sein Vater ein. »Lass uns wenigstens von deinen Eltern getrennt Mittag essen. Einmal am Tag Kuchen, das reicht doch?«
    »Dann koch was! Die flache Silhouette, so ein verlogenes Gequatsche!«, sie warf ihm die Silhouette förmlich an den Kopf. »Gib doch zu, dass du die scharf findest wie alle Männer, eure ganze Gattung ist in dieser Hinsicht so was von simpel!«
    Schon bei »Minikolonie« hätte sie ihm am liebsten eine gescheuert, hatte Paul gespürt, er kam aus dem Streit nicht mehr heraus, höchstens unter dem Tisch durch, doch dann hätte er auch ein Stück durch das nasse Moor kriechen müssen.
    »Schwabing, wo soll denn das sein?«, setzte seine Mutter ihren Feldzug gegen München, Uschi Obermaier und den Blauen Reiter fort. »Gerade du hast von unserer Kolonie sehr viel profitiert! Und von den guten Kontakten meines Vaters. Du nutzt ihn doch nur aus! Vorne herum schleimst du dich ein und hintenrum erzählst du mir was von faschistischer Bauernfamilie, spinnst du?«
    »Ich habe gar nicht faschistisch gesagt, nur schwachsinnig, wegen Nullkück!«, warf Pauls Vater ein. »Wenn ihr hier im Garten wenigstens John Lennon aufgestellt hättet, Ringo Starr ist wirklich der Unbegabteste von allen! Außerdem musst du dich entscheiden: Stones oder Beatles!«, doch seine Mutter ging auf solche Hinweise nicht mehr ein.
    »Meine Tante war Kommunistin! Mein Vater ist Worpsweder Sozialdemokrat, der hier an diesem Gartentisch mit Willy Brandt gesessen hat! Meinst du, Willy Brandt setzt sich bei seinem Besuch in Worpswede einfach so mit einem verkrusteten, schwachsinnigen Bauern an eine Gartentafel?!«
    »Entschuldigung, Johanna, aber ich habe Willy Brandt hier gar nicht im Garten gesehen, wo war er denn?«, setzte sein Vater nach.
    »Du kannst ihn hier auch nicht gesehen haben, weil du schon bei Netzel warst, um ihn dort zu sehen!«, schrie seine Mutter, die einfach übernahm, was ihr Vater vom Besuch Willy Brandts berichtet hatte, als der 1973 in der Kunsthalle Netzel eingetroffen und vorher angeblich noch zehn Minuten bei Paul Kück im Moorgarten gewesen war, um sich die Skulptur von August Bebel anzuschauen und eine von sich selbst in Auftrag zu geben.
    »Ich war nicht bei Netzel!«, hielt sein Vater dagegen. »Jetzt fällt's mir wieder ein! Ich war den ganzen Tag im Garten, weil ich hier auf Horst Janssen gewartet habe!«
    Horst Janssen, dachte Paul, das war der dickste Mann der Welt. Janssen hatte vier Kinder mit vier verschiedenen Frauen, wurde mit dem großen Maler verglichen, der im Garten neben dem irren Philosophen stand, und fuhr oft im Taxi und Bademantel von Hamburg nach Worpswede, um auf den Festen zu trinken. Sein Vater bemühte sich damals um Janssen, weil es gut war, mit ihm in Kontakt zu stehen, er zeichnete auch mit Bleistiften.
    »Ach so, du warst hier also mit diesem fetten, versoffenen, frauenfeindlichen Genie verabredet?«, fragte seine Mutter spitz, ohne ihn überhaupt antworten zu lassen. »Aha! Dann haben meine Eltern also Horst Janssen bewirtet, weil sie dachten, das sei Willy Brandt, oder was? Wie schwachsinnig bist du eigentlich?«, danach lief sie sofort zur Gefrierkühltruhe auf der Diele und nahm das angebissene Stück Butterkuchen heraus, das ihre Mutter eingefroren und

Weitere Kostenlose Bücher