Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Bewegung formen und den Körper erfühlen können. Ich mache aus dir eine moderne Skulptur, einen überlebensgroßen Akt, der an allen Stellen atmet. Mir schwebt eine Venus von Worpswede vor, eine Sonnenfrau. Wenn die Sonne aufgeht, dann liegt ihr Licht überall. Könntest du dein Haar ... Marie, zeig mir, wie du dein Haar öffnest.«
Wieso hatte er das nie bemerkt, fragte er sich wieder, während sie das Band öffnete: diese Haare, dieser Hals, diese Schönheit? War es, weil sie sonst immer Bauernkleider trug, die über den Körper fielen wie Säcke? Weil sie die Frau seines jüngsten Bruders war und sich deshalb jeder genauere Blick verbat? Aber warum? Schließlich war er es, der seinem unbegabten Bruder erlaubte, mit seiner Frau in diesem Haus zu wohnen, da es schwere Zeiten waren - Greta hatte recht -, aber dann durfte er sich ja wohl wenigstens die Frau ansehen, wenn sie schon mietfrei lebte? Außerdem war er Künstler! Er durfte, ja, er musste sich die Menschen genauer ansehen, insbesondere Frauen, endlich Frauen, sein ganzer Garten würde aussterben, wenn nicht irgendwann etwas von der anderen, der weiblichen Seite dazukäme! Und er wusste schon jetzt, dass Marie seinen Blick auf den weiblichen Körper veränderte. Inspiration, Muse, Eingebung, der ganze schöne, gewöhnliche Kitsch des entfesselten Künstlers fiel ihm ein; er dachte auch an den 40-jährigen Rodin, dem Camille, seine Schülerin, Modell gestanden hatte und dessen robuster Stil mit einem Mal weicher, lyrischer wurde, mit Bewegungen, die auch nach innen wiesen.
»Na, was hat Mackensen mit dir gemacht?«
Er sah ihr direkt in die Augen, sodass Marie ausweichend zu Boden blickte.
»Ein bisschen Licht, ein bisschen Schatten? Die alte Malerei, Marie, ist eine Täuschung, Keilrahmen mit Farbe. Ein Mann mit Kohle und einem Radiergummi ...«, er lachte leicht, dann sagte er ruhig und sachlich: »Mir, Marie, mir gehört der menschliche Körper. Zieh dich bitte aus«, dabei bereitete er seine Instrumente vor, die Modellierhölzer, den Ton, den er schon mit seinen großen Händen wärmte. Er sah Marie, die sich zögerlich entkleidete, gar nicht an.
Frühjahr 1944 im Moor: Mackensen und sein Modell Marie
Der Maler stand mit Marie in den Hammewiesen, nahe eines Moorgrabens. Frühjahrssonne. Die Blätter mit den Kohleskizzen hatte er neben der Staffelei aufgeschlagen, sie flatterten im Wind. Schnell wanderten seine Augen zwischen der Frau und dem entstehenden Bild, konzentriert, entrückt, wie immer bei der Arbeit.
»Als Rembrandt die nackte Bathseba malte«, sagte er nach einer Weile, »da nahm er seine Haushälterin als Modell. Sie schenkte ihm später eine Tochter.«
Marie hatte keine Ahnung, was Mackensen damit sagen wollte, und sah ihn weiterhin, wie angeordnet, mit großen Augen an, in einem Arm die Kornblumen, mit der anderen Hand sich das vom Wind durcheinandergebrachte Haar ordnend.
»Bathseba, dat weer Urija sien Fro«, fuhr Mackensen fort, er wechselte aber sofort wieder ins Hochdeutsche, mit dem es ihm angemessener erschien, von biblischem Sex zu berichten. »Bathseba, die Ehefrau des Urija, wurde von König David auf der Straße entdeckt. Als sie von ihm schwanger wurde, da befahl er, Urija aus dem Krieg zu holen, in der Hoffnung, er würde bei seiner Frau schlafen und das Kind als das seine anerkennen.«
Mackensen drückte eine Metalltube aus, tauchte den Pinsel in sein neues Indischgelb und fragte: »Ob Rembrandt wohl daran dachte, als er seine Haushälterin nahm?«
Marie gewöhnte sich langsam an die Reden der Künstler. Paul Kück sprach ständig von Rodin und dass er wie Rodin ihren menschlichen Körper als Kunstwerk zum Atmen bringen würde, wofür sie sich mehrmals hatte ausziehen müssen; Fritz Mackensen begann jeden Satz mit Rembrandt, der Rest waren lange Sätze, umständlicher als bei Paul Kück, mit seltsamen Fragen. Woher sollte sie wissen, was Rembrandt gedacht hatte, als er seine Haushälterin nahm, um diese Nackte zu malen? Sie wusste ja nicht einmal genau, wer Rembrandt war, geschweige denn, warum dieser andere Mann sich weigerte, während der Kriegshandlungen bei seiner Frau zu liegen, und ihn der König daraufhin umbringen ließ, um die Nackte selbst zu heiraten.
Marie hatte sich das Modellstehen insgesamt auch einfacher vorgestellt, vor allem kürzer. Sie gewann einerseits eine hohe Achtung für den Künstler, sein Wissen und seine langwierige, von ständigen Verwerfungen und Neuversuchen begleitete
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