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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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Arbeit. Andererseits lernte sie erstmals wirklich die Männer kennen. Wie groß ihre Reden, Mühen und Anstrengungen waren, wenn sie auf etwas trafen, dessen sich Marie nun selbst immer bewusster wurde: ihre Schönheit und ihren trotz ländlicher Arbeit und Kindern ungewöhnlichen Körper.
    Dem Bild, das Fritz Mackensen im Frühjahr 1944 fertigstellte, gab er den Titel: »Die Frau am Moorgraben (Moormadonna)«.
    Eine große, aus der Moorniederung aufsteigende Frau wie eine Lichtgestalt: zinnoberrotes Kleid, Kornblumen im Arm, eine aufrechte, fast vornehme Haltung mit einem ernsten, natürlichen, offenen Ausdruck und wachen, fast mädchenhaft neugierigen, unglaublich tiefblauen Augen, dazu weiche, nur von Sonne und Sommersprossen gezeichnete Haut. Ihr Handgelenk zierte ein Armreif, den Johan für seine Frau bei einem Silberschmied gekauft hatte, mit der Gravur in Liebe, J.. Auf dem Kopf trug sie Mackensens Strohhut, aus dem der Maler ihr Haar hervorquellen ließ wie fließendes helles Gold mit einer letztendlichen Mischung aus gelbem Ocker, Massivgold mit Schwefel, Zinn und Salmiak sowie Pigmenten vom Baumharz aus Ceylon und einem Rest jenes Harns der indischen Kühe, die man vorher mit Mangoblättern fütterte und dann fast verdursten ließ, wodurch das Indischgelb noch intensiver leuchtete.
    So ein Bild hatte Mackensen noch nie gemalt. Es war sein Bestes. Die sonstige nordische Schwere kam hier nicht zum Vorschein und der Maler stand davor und war ganz irritiert von solch undeutscher Anmut.
    Die Haare hatten sogar etwas von den Sonnenblumen van Goghs; in den Augen strahlten sündhaft teure Lapislazuli-Pigmente wie bei Raffaels Madonnen; das rote Kleid sah aus wie von Henri Matisse - für einen deutschnationalen Maler wie Mackensen war das Bild im Grunde genommen die reinste Volkszersetzung.
    »Man soll es vorsichtshalber an den Rand hängen«, erklärte er, bevor das Ölgemälde im Rahmen einer Worpsweder Sonderausstellung zu Ehren von Fritz Mackensen schon bald der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Die Rede in der Großen Kunstschau hielt der Landeskulturverwalter Schmonsees. Und während Schmonsees in seiner Lobrede von Blut und Boden und Scholle sprach, schaute die gesamte Gesellschaft schräg am Redner vorbei und betrachtete die am Rande hängende »Moormadonna«.
    Marie lief draußen aufgeregt um die Große Kunstschau, setzte sich am Weyerberg ins Gras und schrieb einen Brief an Johan in der Nordukraine.
    Paul Kück zeigte sich, wie alle anderen Worpsweder Künstler, ebenfalls bei der Ausstellungseröffnung und stand in einem Moment, in dem ihn niemand beobachtete, allein vor der »Moormadonna«.
    Nur Hilde und Greta saßen zu Hause im Moorgarten und beschlossen, Marie von diesem Tag an das Leben zur Hölle zu machen.
     
     
    »He, Sie! Dürfen wir auch mal an das Bild ran? Der steht ja die ganze Zeit davor!«, sagte eine der Frauen aus der Oldenburger Malgruppe. Sie war knallrot vor Empörung. Ihre Kolleginnen schüttelten den Kopf und die Dickste schob sich mit rechtschaffenem Eifer vor das Bild.
    »Das Gemälde fehlt uns nämlich noch«, sagte die Dünnste, die einen Rucksack trug, aus dem die Holzstiele mit Borsten herausguckten. Grauenhaft schlechte Pinsel, Borstenpinsel mit rostanfälligen Metallzwingen, die sich wahrscheinlich schon lockerten und jeden geraden Strich unmöglich machten, was bei der Gruppe garantiert auch egal war, dachte Paul.
    Er entfernte sich mit dem typischen Hochmut, den die Einheimischen von Kind an entwickelten gegen die Unflätigkeit der Touristen, die sich in einem »staatlich anerkannten Erholungsort« ausbreiteten.
    »Touristen, ich hasse Touristen!«, murmelte er vor sich hin. Früher hatte er »Touristen« immer mit »Terroristen« verwechselt, das war noch komplizierter als »Kommunisten« und »Komponisten«.
    1977, als ganz Deutschland von Terroristen sprach, wurde Worpswede »staatlich anerkannter Erholungsort« und fortan heimgesucht von Touristen, die mit immer dickeren Bussen anrückten. Paul konnte es über jedem gelben Ortsschild lesen: STAATLICH ANERKANNTER ERHOLUNGSORT. Die Künstler versammelten sich und protestierten. In einer geheimen Aktion schraubten sie alle Schilder ab, und am nächsten Tag gab es an den Ortseingängen neue Schilder, die wiederum erneute Aktionen hervorriefen, aber die Gemeinde Worpswede schien ein unerschöpfliches Reservoir an STAATLICH ANERKANNTER ERHOLUNGSORT-Schildern zu haben.
    Im selben Jahr entführte Paul mit Kameraden ein Kind

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