Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
gehabt: Ein Kind des 77-jährigen Mackensen mit einer schönen Bäuerin hätte ihm irgendwie unterkommen müssen bei seinen Forschungen, und das war es nicht, also war die Sache für ihn erledigt. Auch der Hinweis von Ohlrogge auf die Aussage von Nachbar Jahn, wonach Marie keine Kommunistin gewesen sei, sondern lediglich ein sexuelles Angebot von Mackensen erhalten, aber abgelehnt habe, interessierte Dr. Rudolph nicht. Genau dies jedoch war die Stelle in der Geschichte, an der Ohlrogge schon damals hellhörig geworden war: Wenn Marie keinen Sex mit einem 77-jährigen Kolonievater haben wollte, konnte sie Mackensen doch dafür nicht einfach abholen lassen, das hätte ja selbst die Gestapo für übertrieben gehalten?! Und genau an diesem Punkt kamen nun also Paul Kück und die Polizeimarke ins Spiel, die hinter der Scheune gefunden worden war und die jetzt auf Ohlrogges Bettdecke lag!
So weit klar?, fragte er sich selbst und nickte.
Ja, das war alles sehr klar! Die Wege zur Rache mochten für Außenstehende verschlungen, beliebig und nicht mehr nachvollziehbar sein, aber hier war alles eindeutig, er musste nur endlich zur Tat schreiten! Da, wo diese Marke einmal gelegen hat, da liegt heute vielleicht noch etwas ganz anderes, dachte Ohlrogge und richtete sich im Bett auf. Er notierte:
Paul Kück behauptet: Marie 1944 von Gestapo abgeholt. Aber WOHIN gebracht?? KZ-Recherche! Überall nachfragen!!! Wenn, dann muss es Akten geben. Und wenn Marie in keinen Akten auftaucht, GRABE ICH HINTER ODER UNTER DER SEELENSCHEUNE!!!
Es klopfte an der Tür. Ohlrogge schreckte auf. Er nahm die Fliegenklatsche für Paula-Touristen und ging zur Tür, er hatte noch seinen Schlafanzug an.
Eine ältere Frau mit einem altmodischen Hut und einem dunkelblauen, abgetragenen Mantel stand vor ihm. In der Hand hielt sie einen struppigen Koffer, mit Seehundsfell bezogen.
»Glauben Sie an Gott?«, fragte sie müde, fast mechanisch.
Ohlrogge hatte sich diese Frage noch nie gestellt. »Nein, ich glaube nicht«, antwortete er.
»Haben Sie Interesse an Zeitschriften? Funk Uhr. Neue Post. Die Familie. Jagd-Zeitung?«, fragte die Frau noch erschöpfter, als sie nach Gott gefragt hatte. Der Regen tropfte vom Hut auf ihre Schulter.
»Nein, eigentlich nicht. Mir reicht diese schon«, antwortete er und hob die nasse Zeitung auf, in der ihm die letzte Rückmeldung so wehgetan hatte.
»Dann muss ich weiter«, sagte die Frau und legte die Zeitschriften wieder in ihren struppigen Koffer neben die Bibeln. »Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen«, sagte Ohlrogge.
Er schloss die Tür und sah aus dem Fenster, wie die Frau mit ihrem Koffer über die Wiese zur Straße ging. Hätte er eine der Zeitschriften abonnieren sollen? Aber er interessierte sich nicht für solche Zeitschriften und wahrscheinlich wurde man sie auch nie wieder los. Er öffnete die Tür.
»Brauchen Sie vielleicht einen Regenschirm?«, rief er ihr hinterher.
Die Frau drehte sich nicht mehr um.
Der Reichsbauernführer - Vom Umgang mit Geschichte (Pauls dritter Tag im Moor)
Paul hatte nach dem Abend im Cafe Central mit dem Mann und seinen seltsamen Fragen nicht einschlafen können und irgendwann angefangen, alle Latte Macchiatos zu zählen, die er wohl schon in seinem Leben in Berlin getrunken hatte. Nun wachte er am frühen Morgen durch Bauer Renken auf, der mit der Milchkanne und seinen moortüchtigen Pettholschen über den großen Graben und das Holzbrett klapperte und durch den Garten pettete. Auch brachte er wieder die Zeitung mit, nur diesmal sagte er nichts. Er legte sie mit der aufgeschlagenen Meldung neben die Kanne, nahm die leere vom Vortag, welche Nullkück wie gewohnt am Sockel von Marie platziert hatte, und ging.
Vom Fund im Moor stand in der Zeitung Folgendes:
In der Künstlerkolonie Worpswede wurde bei Grabarbeiten im Garten des 1978 verstorbenen Bildhauers Paul Kück ein Denkmal entdeckt, bei dem es sich um den NS-Reichsbauernminister Richard Walther Darre handeln könnte, dessen Buch »Das Bauerntum als Lebensquell der nordischen Rasse« 1933 von Adolf Hitler ...
Paul las nicht weiter. Er rannte in die Küche und beorderte Nullkück in den Garten. Er befahl ihm, links anzufassen, er selbst übernahm die rechte Seite. Dann kippten sie den Reichsbauernführer um, sodass er auf dem Rücken im Moor lag. Nur der von Pauls Großvater ausgerichtete Arm ragte noch steil zum Gruß nach oben. Die Haare waren nach hinten glatt modelliert. Der Mann hatte eine
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