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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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Benachrichtigungsdienstes über Hinrichs Tod war nicht mehr aufzutreiben, und der Kompaniechef, der die Verluste dem jeweiligen Ortsgruppenleiter meldete, im letzten Gefecht gefallen.
    »Den Krieg verlieren und dann nicht mal die Bürokratie im Griff haben! Was ist bloß los mit den Deutschen?«, schimpfte Pauls Großvater.
    Hilde hatte gehofft, so lange gehofft. Und Pauls Großmutter sagte: »Als Hinrich das letzte Mal von der Front kam, fuhren sie für eine Woche in den Harz. Sie liebten und liebten sich, um den Krieg zu vergessen. Und danach kam er nie wieder.«
    »Und Marie? Haben wir Marie im Moor vergraben?«, fragte Paul.
    Seine Mutter knallte ihm eine. Die Großmutter maßregelte daraufhin ihre Tochter und streichelte dem Enkel sanftmütig über die glühende Wange. »Was erzählst du da für Märchen ...«
    Später, als Malte sogar behauptete, dieser Willy sei nie bei den Kücks zu Besuch gewesen, prügelte sich Paul auf dem Pausenhof. Am nächsten Tag brachte er heimlich das tiefgekühlte Stück Butterkuchen mit, das seine Großmutter eingefroren und Willy Brandt angeblich nur zur Hälfte gegessen hatte, weil er schnell weitermusste wegen der Spionagesache. Er zeigte es Malte und den anderen Kindern, aber sie lachten wieder. Paul steckte das kalte Stück sofort in seine Hosentasche. Er zitterte am ganzen Leib.
    1974 wurde Hilde »winterweich«, wie man das im Teufelsmoor nannte. Sie fragte noch, ob jemand mit ihr und Nullkück am Wochenende in den Vogelpark nach Walsrode fahren würde, sie sei doch nirgendwo gewesen in ihrem Leben.
    »Aber du warst mal im Harz!«, sagte Paul.
    Hilde schaute ihn mit trüben Augen an. »Da gibt es Flamingos«, flüsterte sie und suchte noch einmal ihre Stimme. Und Nullkück, der Komiker, stellte sich auf die Zehenspitzen, streckte seinen Hals und rief zweimal begeistert »Flamingo«. Pauls Mutter winkte ab. Sonntag würden sich die Filmleute von »Die bitteren Tränen der Petra von Kant« am Drehort in Worpswede treffen, da sollte Paul den Regisseur kennenlernen.
    Als sie zurückkamen, war Hilde tot. Sie war mit offenen Augen gestorben. »Da gibt es Flamingos« waren ihre letzten Worte. Nullkück saß an ihrem Bett.
    Kaum war sie beerdigt, flüsterte Greta den Gästen zu, in ihrem Haus würde ein Sohn des alten Mackensen leben. Die Mutter sei ihre Schwägerin gewesen, eine Unvernünftige in einer schwierigen Zeit, ein Flittchen, eine Kommunistin, die Nazis hätten sie abgeholt. »Beim Gründer der Künstlerkolonie stimmte was mit den Genen nicht. Lauter geistesgestörte Kinder, auch dieses!«
    Sie zeigte dann auf Nullkück, der vor den Blicken der anderen in sein Zimmer flüchtete.
    »Was soll man machen?«, seufzte sie. »Aber immerhin ein echter Mackensen!«, dabei hatte sie ein Blitzen in den Augen, wie wenn sie ihren berühmten Topf mit den Linsen servierte oder den Rilkesohn über die Wiesen kommen sah.
    Paul lief oft in sein Kinderzimmer, blätterte in Worpswede-Katalogen und verglich den Kopf von Mackensen mit dem Kopf von Nullkück, der stumm in seinem Zimmer saß und an den Liebesbriefen schrieb.
     
    »Ich würde Sie gerne etwas fragen«, sagte der Mann mit dem »China-Code«.
    Paul hob seinen Blick aus dem Milchschaum.
    »Ja, Sie da, aus Berlin!«, er drehte sich leicht auf seinem Barhocker um und sah Paul direkt an, was ihn erschreckte, so eine Anrede war er gar nicht mehr gewöhnt.
    »Bitte«, erwiderte er verhalten und starrte den Mann an, der sich nun ganz auf dem Hocker umgedreht hatte und aussah wie zum Absprung auf seine Beute.
    »Sie können es nicht wissen, aber ich weiß es. Die Welt, auch Berlin, da, wo Sie herkommen, das ist ein Irrenhaus, ein Krankenhaus, ein Gefängnis. Wenn Sie wirklich wissen wollen, was Freiheit ist, schließe ich jetzt das Central ab, damit wir hier in Ruhe miteinander reden können. Ludwig, gib mir den Schlüssel!«
    Paul bekam augenblicklich Herzrasen. Der Mann nahm den Schlüssel und schloss mit einer schwungvollen Bewegung von innen das Cafe ab, dann begab er sich direkt an Pauls Tisch.
    »Guten Abend. Mein Name ist Gustav Hügel. So wie Sie da sitzen, sehe ich es deutlich. Soll ich sagen, was Ihnen fehlt? Die Zeitlosigkeit, das Vollindividuum! Sie wollen weit vorne mitschwimmen in der Zeitbrühe, in diesem Zufallsgemisch, und dabei lösen Sie sich auf wie eine Brausetablette!«
    Paul nahm aus lauter Fassungslosigkeit einen Schluck Latte Macchiato mit Wollflusen, weil er nicht wusste, was er sonst machen sollte. Die russische

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