Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Melodie hörte er auch nicht mehr, der Tetris-Typ war wohl gegangen, nun waren sie nur noch zu dritt im zugeschlossenen Central.
»Ich werde Ihnen jetzt kurz erläutern, was Sie tun müssen, damit Sie sich nicht in der Welt auflösen. Sind Sie bereit?«
Paul bekam Schweißausbrüche, stierte auf den Schlüsselbund, der in der Tür vom schwungvollen Drehen hin und her pendelte, und sagte: »Ja, ja.«
»Gut, gut. Dann denken Sie nun darüber nach, was Sie alles tun, um anerkannt zu sein. Und fühlen Sie sich würdevoll, während Sie alles tun, um anerkannt zu sein? Wie alt sind Sie?«
»35«, stotterte Paul und bemerkte, wie ihn kleine grüne Augen attackierten und ihm eine Luft von Alkohol entgegenströmte.
»Ein entscheidendes Alter! Sie stellen jetzt Ihre Weiche!
Selbst-Entdeckung,Vollindividuum, oder Sie lösen sich auf wie eine meinetwegen kurzfristig anerkannte Brausetablette. Wissen Sie, warum sich die Menschen an Funktionen und Erfolge klammern?« Er rückte mit dem Stuhl näher heran. »Weil sie sich innerlich schon aufgelöst haben durch die herrschenden Brausekräfte, deshalb! Die Menschen haben nichts anderes. Als allerersten Schritt würde ich Ihnen persönlich empfehlen, keine Zeitung zu lesen und auch den Latte Macchiato wegzulassen. Modisches Zeugs. Dieses Schaumding steht vor Ihnen wie ein Ausrufezeichen! Wenn Sie zu Ihrem eigenen Kern vorstoßen, tut es auch ein normaler Filterkaffee.«
»Ich muss leider gehen«, sagte Paul, ihm reichte es. Erst der aufsteigende Marie-Nebel und jetzt dieser Wahnsinnige mit seinen Brausekräften und Filter-Anweisungen.
Paul legte 2 Euro 50 für Ludwig auf den Tisch, während er schon den Schlüssel in der Tür fixierte, den er in spätestens zehn Sekunden umzudrehen gedachte, um das Cafe Central zu verlassen, schließlich hatte er anderes zu tun, zu Hause im Garten lag dieser Horrorfund herum, warum sollte er sich jetzt auch noch mit diesem Irren abgeben?
»Es war mir eine Ehre. Worpswede ist ein guter Ort für Ihre Aufgabe. Soll ich Sie anmelden lassen?«, fragte Gustav Hügel und hob das Glas, so als trinke er auf seinen Gast.
Paul drehte den Schlüssel um, atmete etwas ruhiger und fand endlich den genervten Tonfall, den er schon die ganze Zeit zum Ausdruck bringen wollte, sich aber in einem verschlossenen Raum mit einem Totalverrückten nicht anzudeuten getraut hatte: »Anmelden wofür?«
»Ich gründe in Worpswede eine Schule der Würde«, antwortete der Mann höflich.
»Ich hab echt andere Sorgen! Schönen Abend!«, wünschte Paul und knallte die Tür zu.
Auf den Treppenstufen vom Central kam ihm eine Frau entgegen, behangen mit rasselndem Schmuck und großen Ohrringen, mit Rouge auf alter, faltiger Haut und mit einem Wollkleid, das so lang war, dass es über die Stufen strich. Paul nickte freundlich und lief die Treppe hinunter.
»Guten Abend. Erinnerst du dich? Ich bin es, die Geliebte von Gottfried Benn und Horst Janssen«, sagte die Frau mit dunkler Stimme.
»Kenn ich nicht«, sagte Paul. Er nahm zwei Stufen gleichzeitig und setzte an zum Dauerlauf.
Es war dunkel geworden und regnete. Paul lief durch die Marcusheide, in der sich schon ein paar Verzweifelte erhängt hatten und durch die Paul früher immer so schnell gerannt war, wie er konnte, wenn es zu dämmern begann, weil er an jeder Birke einen hängenden Künstler zu sehen glaubte. Er überquerte den kleinen Tetjus-Tügel-Weg (auch ein Künstler), bog auf den Bernhard-Hoetger-Weg (noch ein Künstler) und machte immer schnellere Schritte. Vielleicht folgte ihm dieser Wahnsinnige aus dem Central oder die Geliebte im Wollkleid. Ihm schoss ein Bruchstück vom Traum durch den Kopf: Marie steigt aus dem Bild. Nimmt ihn an der Hand. Läuft mit ihm durch das Dorf. Zu Stolte. In die Scheune. Am Ende ins Moor. Alles ist schwarz-weiß, wie auf alten Fotos. Nur ihr Kleid ist rot. Er versuchte sich gerade zu erinnern, was Marie ihm in der Scheune zeigen wollte, als der Wind so laut durch die Äste fuhr, dass Paul zusammenschrak.
Er lief immer schneller über den Osthang des Weyerbergs. Krähen quarrten über den Berg. Am Himmel stand der volle Mond, vor den sich dahinjagende gelbe Wolken schoben, die auch die Sterne verhüllten. Die Heide lag kupferrot hinter Paul im Dämmerlicht. Jetzt bloß keine inneren Landschaftsbeschreibungen machen, dachte er, er musste an die Malschule denken, an die Unterrichtsstunden, in denen er sich mit seinen gemalten Landschaften und Himmeln vor den anderen Kindern
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