Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
schrecklicher Satz. Kalt, von einem Tag auf den anderen, Johannas ganze Kraft, der Strom von großen und kleinen Zartheiten, wie abgetrennt von ihm mit einem Fallbeil.
»Hältst du mein Seelenband?«, hatte sie am Meer gefragt.
»Ein Seelenband halten ist ein Ja für Jahrhunderte«, hatte er gesagt.
Am nächsten Abend war sie in einen Club nach Bremen gefahren. »Lila Eule«, da ging man hin.
Schön sei es gewesen, sagt sie, als sie erst am Morgen mit offenem Haar und ihrem kornblumenblauen Flatterkleid im Garten steht.
»So lange?«, fragt er, sein Mund wird immer dünner vor Angst. Sie steht da wie in einem Eismantel, denkt er, sie muss aufpassen, dass ihr der kalte Mantel nicht zerschmilzt vor lauter Glut von der Nacht.
Johanna sieht lieber zu Boden, sodass ihr Gesicht vom Haar verdeckt wird. Sie streicht es sich hinter das Ohr, will etwas sagen, dann lässt sie ihn stehen und schließt sich im Badezimmer ein, feilt ihre Fußnägel für den anderen.
Später packt sie die Kisten, die ihr Vater eigenhändig auf den Teufelsmoordamm stellt, in den Nieselregen, zusammen mit den Bildern.
»Bloß wegen der Scheune? Es tut mir leid, ich wollte dir nicht wehtun, Prinzessin«, sagt er, hilflos zwischen den Kisten stehend.
»Es tut mir leid mit dem Stuhl!«, sagt er zum Vater. »Auch mit der Autofrage, es war natürlich britisch! Ich habe nie behauptet, dass Sie ein Auto der Kriminalpolizei verschwinden ließen, da wären ja auch noch Polizisten drin gewesen, der Herr Jahn hasst Sie, weil Sie so ein erfolgreicher Künstler sind!«, doch der Vater lässt nur die letzte Kiste auf den Teufelsmoordamm fallen.
Ohlrogges Blick wanderte wieder zu den Vergangenheitskisten. In all den Jahren hatte er manchmal vorsichtig hineingesehen: Schallplatten, die sie gehört, Bücher, die sie gelesen, Kerzenständer, die an ihrem Bett gestanden hatten, sogar das fast heruntergebrannte Bienenwachs ihrer letzten Nächte lag in einer der Kisten. Alte Zeitungen, Briefe, vertrocknete Pinsel, zusammengehalten von mürben Gummibändern. Die alten Hausschuhe vom Teufelsmoordamm, Haarbänder von ihr, mit denen er aufgerollte J.M.W.-Turner-Plakate gebunden hatte.
Fotos: sie und er, eine ganze Serie, etwas schief und unscharf, manche auch fotografiert von Nullkück. Ein alter Kassettenrekorder, Pingpongbälle, Schuhcreme, Tüten mit Spannzangen, Worpswede-Kataloge, in einem war auch ein Worpswedehimmel von ihm abgebildet. In einer der Kisten lagen das Lebkuchenherz vom Bremer Freimarkt aus den Sechzigerjahren und der Stein vom Spaziergang an der Nordsee.
Ein Bügeleisen, Wäscheleinen, verknotet mit alten Lichterketten und der Drachenschnur, mehrere defekte Rasierapparate, die man vielleicht noch reparieren konnte. Wärmflaschen, Reste von Duftwasser.
Johannas Weleda-Hustensaft, abgelaufen. Halb zerrissene Kästen mit Gesellschaftsspielen von früher: Mensch ärgere dich nicht, der rote Deckel vom Nordseestein durchbrochen, das groß geschriebene Mensch des Deckels lag irgendwo - wie lieblos Johanna damals die Kisten gepackt hatte, dachte er.
Manchmal trat er verärgert mit dem Fuß auf eine der Kisten, sie gingen einfach nicht mehr richtig zu. Halb ruhte die alte Zeit in den Kisten, halb stieg sie aus ihnen heraus. Einmal hatte er mit voller Wucht auf das steinharte Lebkuchenherz geschlagen, seitdem klemmte es mit der Zuckergusszeile »Du bist mein Stern« unverrückbar zwischen den alles verkeilenden Pingpongschlägern und der alten Moulinex-Maschine, in der mittlerweile das Mensch vom Deckel des Gesellschaftsspiels gelandet war.
Irgendwo in einer der Kisten musste auch die sinnlose Liste mit Paul Kück und der Nordischen Gesellschaft liegen, fiel Ohlrogge ein, er hatte damals entschieden, dass die Nordische Gesellschaft in eine dieser Kisten gehörte.
Warum schmiss er nicht einfach alles weg? Wegschmeißen! Warum nicht morgen alles wegschmeißen, dachte er.
Neben den Vergangenheitskisten standen Vasen mit vertrockneten Blumen, die er morgen wegbringen könnte. Aus der Zimmerpflanze, die man vor zwanzig Jahren hätte umtopfen müssen, wuchs eine knorrige neuartige Pflanze. Die andere war an den Topfrand gedrängt, blätterlos. So stellte er sich seinen Magen vor, in dem das Lebendige verdrängt wurde von knorrigen Fremdgewächsen.
Neben einer der Kisten lag die alte Napoleon-Le-Page-Pistole, die ihn fast hinter Gitter gebracht hätte. Die Kugel, die für Herrn Klein-Goya bestimmt gewesen war, steckte immer noch darin. Die
Weitere Kostenlose Bücher