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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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zweite Pistole hatte er damals im Garten zurücklassen müssen.
    Und das alte Telefon stand noch da, mit dem er bei Frauen anrief, deren Nummern er in lokalen Postwurfsendungen fand. Seit ein paar Wochen benutzte er eine Nummer für »scharfe Frauen aus deiner Region«. Eine andere für orientalischen Telefonsex mit »türkischen Girls ohne Tabus«. Und eine weitere Nummer für »Teledominas«, die einem angeblich ohne Wartezeit direkte Befehle erteilen wollten. Bei allen Nummern aber landete Ohlrogge jedes Mal zuerst bei einer Ansage, die ihm ellenlang erklärte, dass er die Speichertaste oder Rautetaste drücken sollte, dann die Sterntaste und wieder eine der anderen Tasten, um gleich mit den Frauen live sprechen zu können oder mit ihnen Sprachnachrichten auf privaten Voice-Boxen auszutauschen in der Audio-Reality.
    Das Einzige, was Ohlrogge in seiner wachsenden Erregung begriff, war, dass er keine Tasten, sondern nur eine Scheibe hatte. Aber auch, wenn er nur an ihr herumdrehte, hörte er Frauen, die ihm Dinge sagten wie: »Ich bin die Jenny und warte im Stroh ...« oder »Uhhh, komm, ich bin Jasmin aus dem Land der heißen Nächte und weiß, dass du Bauchtanz magst ...« Ohlrogge dachte immer, dass dies die privaten Voice-Nachrichten für ihn waren, und hörte sich alles an. Er fühlte sich auch ohne Tasten angesprochen, und das war auch mal etwas anderes als dieser ewige Putzporno im Club.
    Manchmal sprach er etwas Persönliches in den Hörer. Einmal vernahm er bei einer Frau im Hintergrund Sirenen und eine Minute später fuhr auf der Viehländer Landstraße ein Wagen auf sein Häuschen zu, mit Blaulicht. Da legte er schnell auf.
    Wieder sah Ohlrogge auf seine Hände. Wieder die kalte, lähmende Angst. Was hast du die vergangenen 30 Jahre gemacht? - fragte er sich. Irgendeine Frau hätte es doch geben können? Warum hast du keine Kinder? Wieso kommt dich niemand besuchen? Warum klingelt dieses Scheißtelefon nur im März, wenn die Malschule Termine durchgibt? An was hast du all die Jahre gedacht, das für dich vorgesehen sei? Glaubtest du immer noch, du seist in Wahrheit ein Genie, das, wenn man es nur endlich erkannt hätte, mit sich selbst glücklich geworden wäre?
    Ohlrogge schlug mit voller Wucht auf die Bettdecke. Mehrmals. Weinte. Nun war er alt. Alleine. Vergessen in einem vollgemüllten, würfelartigen Backsteingemäuer an einer Schnellstraße in Viehland, wo es nur den Hof der Wellbrocks gab, die Kühe und noch fünf schäbige Häuser. In dem letzten, kleinsten wohnte er, so einsam wie im letzten und kleinsten Haus der Welt, mit dem fremden Glanz von ein paar verzweifelten Paula-Tagen.
    »Ja, das einzig Interessante an mir ist wohl das Haus mit den sieben Paula-Tagen, was?«, fragte er in die Stille.
    »Verkauf es doch endlich und dann geh weg!«, antwortete er sich selbst.
    »Nein!«, rief er, »nein, nein!« und schlug wieder auf die Bettdecke ein.
    Er rieb sich die Augen. Er wollte etwas anderes denken. Er wollte aufhören mit den Tränen und dem Alter, das herangeschlichen war und nun mit einem höhnischen Ausdruck die jüngeren Jahre befragte, wonach man die ganze Zeit gesucht hatte. Das Alter, dachte er, es schlich sich hinter dem Rücken so unbemerkt heran, dass man, wenn man sich umsah, einen furchtbaren Schreck bekam und in einer einzigen Sekunde wusste, was nun gekommen war. Ein Mensch wurde nicht mit der Zeit alt, er wurde an einem bestimmten Tag, zu einer bestimmten Uhrzeit alt: ein plötzliches Umdrehen, ein schrecklicher Gedanke - und man war schlagartig alt! Bei ihm, dachte Ohlrogge, war es heute um Punkt zwölf Uhr geschehen.
    Was sollte er jetzt mit der restlichen Zeit anfangen?
    Er hätte sofort mit dem Aufräumen und Ausmisten beginnen können. Früher hatte er keine Zeit gehabt aufzuräumen und auszumisten. Er hatte nicht einmal Zeit, Lebensversicherungen abzuschließen, Altersvorsorge, wozu? Er war jung, er musste malen, er war sich selbst die größte Versicherung, er müsste sich nur ranhalten. Vielleicht hätte er gerne zwischendurch mal aufgeräumt, irgendein Formular ausgefüllt oder sich versichert, aber es ging nicht. Und jetzt, wo die Zeit gekommen war, wollte er nicht. Schon seit Weihnachten machte ihm Angst, dass er die Zeit plötzlich spürte, dass sie ihn lähmte. Dass sich die Zeit, die er hatte, vermehrte. Früher hatte er nie darüber nachgedacht, alles war gefüllt mit Plänen, mit Morgen, mit Beruf, Bildern, Himmeln. Keine Zeit zu haben vergrößerte die Welt.

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