Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
hohe Stirn, kräftige Augenbrauen sowie eine das Gesicht in die Länge ziehende Nase, spitz geformt über schmalen Lippen. Die Konturen der Mundwinkel waren ernst, wiesen streng nach unten und wurden kontrastiert von einem aufgeschlagenen Mantelkragen.
Nullkück war außer Atem. Paul schmerzte der Rücken. Der Mann war bestimmt zwei Meter zehn groß und über hundert Kilo schwer! Bronze. Innen hohl, aber mit einer Wandstärke von fünf Zentimetern. Alle anderen Skulpturen im Garten waren kleiner, sogar Max Schmeling und Otto von Bismarck, die als groß galten, aber offenbar war der Reichsbauernführer ein Riese gewesen. Um ihn die restlichen Meter zum Graben zu schaffen, entschied Nullkück, auf Pauls Seite zu kommen, um den Mann zu rollen. Sie hoben, sie hievten ihn hoch, drehten ihn über den Schwerpunkt und ließen ihn mit dem Gesicht ins Moor fallen. Das hatte gut funktioniert, allerdings bohrte sich der grüßende Arm so sehr in den Schlamm, dass an Weiterrollen nicht zu denken war. Wie ein Widerhaken steckte der Arm mit der Hand im Moor.
Nullkück schlug vor, alles auf die Schubkarre zu verladen, aber die hatten Brünings mitgenommen. Er holte seine eigene, sie hatte in der Mitte ein Loch und kaum Luft auf dem Reifen. Paul kannte diese Schubkarre noch aus der Kindheit, mit der hatte sein Großvater erschossene Maulwürfe durch den Garten gefahren, aber für den Reichsbauernführer benötigte man eine bessere.
»Da brauchen wir Vollgummireifen und verstärkte Kufen«, erklärte er.
Sie hoben den Reichsbauernführer ein Stück nach oben, um den Arm aus dem Schlamm zu ziehen, was so anstrengend war, dass beide die Lippen zusammenpressten. Dann stellten sie ihn vorerst wieder auf den Sockel und atmeten durch.
Vielleicht war das auch nicht der richtige Umgang mit Geschichte, dachte Paul.
Es ging gegen zwölf. Schon seit einer Stunde rollten und hievten sie diesen Führer durch das Moor, und jetzt stand er nur zwei Meter von der Stelle entfernt, wo sie ihn gestern beim Ausheben der Abzugsgräben gefunden hatten.
Paul beobachtete die anderen, an der alten Eiche festgebundenen Figuren. Sie blickten stumm herüber, so wie man herüberblickt, wenn ein Fremder in einem Dorf ankommt.
Nullkück nahm Renkens Milch, ging in die Küche und machte Buchweizenpfannkuchen. Zehn Minuten später rief er zum Essen. »Mahltiet, Mahltiet«.
»Mahlzeit«, sagte Paul.
Es war Punkt zwölf. Er fühlte sich am dritten Tag für einen Augenblick wie gehalten und aufgehoben.
Er setzte sich an den Küchentisch, aß vom Pfannkuchen und legte sein Notizbuch neben den Teller. Nach dem Essen schlug er eine freie Seite auf und formulierte den ersten Entwurf für eine Anzeige.
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Ohlrogge schaut für einen Augenblick auf sein gegenwärtiges Leben und wird um Punkt zwölf Uhr alt
Peter Ohlrogge lag in seinem Bett und wartete, dass die Zeitung trocknete.
Mit seinen Marie-Ermittlungen war er nicht weitergekommen. Er wusste nicht, ob man Gedächtnisstätten überhaupt anrufen konnte und an welche er sich zuerst wenden sollte. Auch fühlte er seit der Frau mit dem struppigen Koffer und der Gottfrage eine kalte, lähmende Angst.
Er sah auf seine Hände. Sie schienen noch kleiner geworden zu sein in der letzten Zeit. Zwei immer kleiner werdende Hände lagen vor ihm auf der Bettdecke, sie sahen so lebensmüde aus wie die Frau von vorhin. Sein Blick wanderte durch das Schlafzimmer, in dem ein kleines Brigitte-Bardot-Bild hing: die Bardot auf dem alten roten Filmplakat von Godard, ihre Brüste, ihr Mund. Ohlrogge stellte sich ihre Hände vor, wie sie alt und kleiner geworden irgendwo in Frankreich über traurige Tiere streichelten. Er betrachtete sein Wohnzimmer mit dem Tisch, der fast den ganzen Raum ausfüllte; den Boden, auf dem überall Flaschen herumstanden, die er jeden Morgen wegbringen wollte; die Kisten aus dem alten Johanna-Leben, diese 35 Kisten, die er, als er hier eingezogen war, abgestellt und abgedeckt hatte, so als könnte man den Schmerz mit Bettlaken unsichtbar machen.
Sommer 1967: Die letzten Tage, nachdem sie vom Meer gekommen und in der Scheune gewesen sind
»Da ist jetzt ein anderer«, sagt Johanna, als er das Haus verlassen soll.
»Da ist jetzt ein anderer« - was für ein
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