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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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Jetzt aber, wo es immer mehr davon gab, verkleinerte sie alles. Der Raum wurde kleiner, die Zeit immer mächtiger.
    Kann man sich das vorstellen, wie das ist: dasitzen und warten auf nichts?
    Nein, wenn er jetzt damit anfinge aufzuräumen, dann würde er zugeben, dass nichts mehr käme und nur noch das Aufräumen bliebe in seiner immer kleiner werdenden Welt. Bloß nichts aufräumen, sagte er sich. Das Aufräumen wäre die Vorbereitung auf den Tod, auf den man hinleben würde als das letzte Ereignis. Wenn alles aufgeräumt wäre, gäbe es nur noch das Dasitzen. Man müsste vielleicht noch einmal zwanzig Jahre herumsitzen, weil es trotz der unendlich langen Zeit keine Zukunft mehr geben würde, zu der man gehören und in der man eine Rolle spielen könnte. Es würde also nur noch der Tisch wackeln, ab und an ein toter Igel zu beerdigen sein oder ein Tourist kommen, den er in die Flucht schlagen konnte. Ansonsten blieben nur das Dasitzen mit seinem pflanzlichen Magen-Darm-Mittel, die Malschule, die Frauen im Telefon mit ihren Tonbandstimmen und zweimal, manchmal auch dreimal in der Woche bei Regen der Don-Camillo-Club. Und wenn er langsam alles vergessen, Jahr für Jahr eine Erinnerung nach der anderen verblassen würde und er mit müden Augen vor seinen aufgeräumten Vergangenheitskisten säße, dann würde er sterben, alleine sterben in seinem Einsamkeitswürfel. So stellte er sich sein Ende vor:
    Besitztümer? Sinnlos, weil wem vererben?
    Verantwortungen? Keine.
    Nahe Menschen? Keine.
    Errungenschaften? Eigentlich auch keine.
    Was war denn, verdammt noch mal, die Aufgabe, wenn man alt geworden war? Mit irgendeiner letzten Form von Würde wieder aus der Welt zu gehen? War das die Aufgabe? Und diese alte Frau von vorhin mit ihrem struppigen Emigrantenkoffer - war das er? War das sein Weg?
    Ohlrogge sah wieder auf seine Hände, die auf der Bettdecke zur Ruhe gekommen waren.
     

Mit dem Reichsbauernführer in der Nacht
    In der dritten Nacht sprang Paul aus dem Bett und lief in den Garten. Dieser Mann musste weg! Und zwar schnell, man konnte ja nicht warten, bis der von alleine versank! Nie im Leben würde die Gemeinde an dieser Stelle noch ein Heimatmuseum errichten, schon allein die Vorstellung: dieser Mann auf der Sonderausstellung zwischen Ringo Starr, Willy Brandt und seiner Großmutter! Vielleicht musste sich Paul das auch nicht vorstellen, weil es mit diesem Reichsbauernführer im Garten höchstwahrscheinlich zu gar keiner Künstler-des-Jahrhunderts-Ausstellung mehr kommen würde! Auf jeden Fall ginge der Wert des Hauses rapide in den Keller, ganz zu schweigen vom Preis für das Grundstück, einem unterirdischen Propagandagelände, aus dem plötzlich Nazis hervorkamen! Wenn er das Geld, die gute halbe Million, die seine Mutter schätzte, schon in der Tasche hätte, dachte Paul, dann könnte er mit der Wahrheit leben, aber umgekehrt? Und wer hatte die Hamme-Nachrichten informiert?
    Er konnte im Mondlicht nur in das eine Auge sehen, in dem anderen klebte Torf, allerdings erhob sich der rechte Arm sehr deutlich schräg nach oben und mit flacher Hand zum ewigen Gruß.
    Paul stellte sich direkt davor, schlug die Hacken zusammen und grüßte zurück. Er fand sich einen Moment witzig dabei, dann dachte er, jemand könnte ihn beobachtet haben, was absurd war, mitten in der Nacht, in dieser Wildnis, und die anderen Skulpturen, die um ihn herumstanden, sie lebten ja nicht. Trotzdem spuckte er der Figur ins Gesicht, er musste richtig hochspucken, so groß war sie. Irgendeine Reaktion, dass er auf der richtigen Seite stand, dachte Paul, musste erfolgen. Er spuckte für die Öffentlichkeit, obwohl es ihm schon beim Spucken leidtat, es war doch auch sein Großvater.
    Welche Fragen dieser Mann aufwarf. Sich in Ironie retten? Alles nicht so ernst nehmen? Weglaufen? Zurück nach Berlin? Warum sollte er sich überhaupt mit so etwas herumschlagen?
    Für diese uralten Feinde bin ich gar nicht zuständig, das hätten doch andere machen müssen - antwortete er sich.
    War er jetzt der Geschichtsmüllmann, der alles wegräumen musste, was die vorherige Generation stehen ließ?
    Danke, ich habe eigene Feinde - erklärte er sich. Warum sollte er hier einen Reichsbauernführer verarbeiten? Die Unmoralischen, die Mörder, die lauern doch heute überall viel getarnter, kaschiert hinter globalen Indexen, bunten Krawatten und schöner Werbung, sagte er sich. Ja, um die bunten und schönen Feinde hatte sich seine Zeit zu kümmern, nicht um

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