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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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neuen Petrov-Mappe zur Post und bewarb sich in ganz Europa für Förderstipendien in Euro, mit sagenhaftem Erfolg. Mit Bewerbungsmappen und dem Geschmack der Gremien kannte er sich immer besser aus. Gerade was Deutschland betraf, da wurde er regelrecht herumgereicht, und manchmal schien es ihm, als käme es den Gremien nur darauf an, denjenigen zu nehmen, der ohnehin schon von den anderen Gremien bedacht worden war. Man verließ sich einfach auf das Urteil der vorherigen, so konnte man nie ganz falschliegen.
    Georgij war zunächst in Wiepersdorf bei Berlin gewesen, wo er sein erstes Malerstipendium in einem Schloss absolvierte, und kam dann über die Stipendien in Schöppingen und Schwalenberg im Frühjahr nach Worpswede, um Quartier in den »Künstlerhäusern« zu beziehen. Sechs Monate, 1.400 Euro monatlich plus Wohnung im BarkenhofF, den Heinrich Vogeler errichtet hatte, wie er in der schönen Zusage las, der auch Informationsmaterial beigefugt war:
     
    Worpswede is situated 25 kilometers to the northeast of Bremen in the middle of Devil's Moor.
     
    Vor Georgij waren nach Worpswede auch schon Rilke und Modersohn eingeladen worden, die Georgij nicht kannte, die aber berühmt zu sein schienen. Man dichtete, malte, musizierte, hielt Gesellschaften ab und heiratete. Später wurde Worpswede ein »world-village« mit »beautiful landscape« und der Barkenhoff eine Kommune, in der Vogeler mit Sonja Marchlewska lebte, der Tochter eines Lenin-Vertrauten:
     
    A daughter of a friend of Lenin was living here.
     
    Ja, das klang alles sehr gut.
    Die meiste Zeit lief Georgij durch die »beautiful land-scape«, setzte sich auf eine Bank in der Hamme-Niederung und spielte Tetris auf seinem Gameboy, während die Melodie, dieses immer schneller werdende russische Volkslied, über die Moorwiesen tönte, die schöne Landschaft nahm er gar nicht wahr. Georgij saß wochenlang da, fixierte durch seine randlose Brille die geformten Klötzchen, Winkel, Haken, Quadrate und Stäbchen, die er beim Fallen so zu drehen versuchte, dass sie sich am unteren Rand zu lückenlosen Reihen ineinanderschoben, wofür es Punkte gab. Wenn Georgij eine geschlossene Reihe gebildet hatte, erhöhten sich der Schwierigkeitsgrad sowie die Fallgeschwindigkeit der Klötzchen und es gab noch mehr Punkte, falls man im Rennen blieb. Und wenn er den ganzen Tag bis in die Nacht hinein Tetris spielte, kam er auch nicht dazu, das monatlich verdiente Geld auszugeben. Mit den schönen Euros schwebte ihm anderes vor. Er ging nur manchmal ins Cafe Central, aß eine Suppe und trank Leitungswasser.
    Georgij hatte schon einiges angespart. 820 Euro monatlich in Wiepersdorf und 1.000 im Monat in Schöppingen sowie 900 in Schwalenberg, und überall hatte er seine Zeit mit diesen herunterfallenden Formen verbracht. Und nun Worpswede mit 1.400 Euro, das waren fast 50.000 Rubel monatlich, so viel konnte er im Sekretariat der Russischen Kunstakademie niemals verdienen.
    Er hatte sich einen Stapel mit dem schönen Briefpapier der Akademie mitgenommen und schrieb auch aus Worpswede regelmäßig Frauen an, manchmal mailte er auch, wenn er eine entsprechende Adresse vorgefunden hatte.
    Besonders Ana ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie hatte kein Passbild eingereicht, sondern ein Foto mit ihrem ganzen Körper: pinkfarbener Trainingsanzug, endlos lange Beine, die den gedrehten Stuhl, auf dem sie saß, umschlossen, so als würde sie ihn empfangen. Dazu stützte sie sich mit den Armen auf der Rückenlehne auf und beugte leicht den Oberkörper vor, wodurch die hellen, fast rötlichen, man könnte sagen, goldroten langen Haare nach vorne fielen und die eine Hälfte ihres Gesichts berührten. Ob sie talentiert war, wusste er nicht mehr, denn er zerpflückte und trennte die Bewerbermappen immer sofort in Verwendbares für die Petrov-Mappen und in Frauenfotos von schönen Bewerberinnen zum Anschreiben, Kaffeetrinken und Mit-nach-Hause-Nehmen. Das Foto von Ana hatte er sich sogar auf seine Deutschlandtour mitgenommen.
    Mensch, Petrov, wie diese Beine den Stuhl empfangen!, dachte er und war der Aufnahme immer noch nicht überdrüssig. Er hatte sich schon in Wiepersdorf und Schöppingen an die Stelle des Stuhls imaginiert und sah nun auch in Worpswede wieder darauf, außerdem war es Zeit, sich noch einmal interessant zu machen, und Georgij mailte aus Worpswede Folgendes:
     
    Liebe Ana,
     
    ich weiß nicht, ob Sie meinen Brief aus der St. Petersburger Kunstakademie erhalten haben. Nun bin ich indes

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