Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Tochter in den Arm nahm, stolz mit ihr im Café saß und sich von den Touristen fotografieren ließ. Wie schön und verlegen er dann lächelte. Er ging gerne ins Café, weil ein paar Schritte entfernt, direkt vor der Kunstschau, sein großes Findorff-Denkmal stand, das zu einem Wahrzeichen der Moorgemeinde geworden war. Manchmal beobachtete Paul die Touristen, wie sie das Denkmal mit den eingedrehten Bronzelocken fotografierten. Er legte seinen Finger auf Findorffs Bauch und sagte, diesen Mann habe sein Opa gemacht, der sitze im Café mit seiner Mutter. So kam der Großvater zu der Ehre, dass wildfremde Leute sich mit ihm und seiner Tochter ablichten ließen, während Paul draußen für Nachschub sorgte.
Pauls Großvater unterstützte seine Mutter in allem, mit Zärtlichkeiten, mit Geschenken, mit Geld sowieso. Und wenn sie im Moorgarten Partys feierte, mit ihren Freunden irgendwelche Sachen rauchte oder morgens Krishnagebete im Frühnebel abhielt - ihr Vater tanzte manchmal mit, was gar nicht peinlich war in seinem weißen dreiteiligen Sommeranzug mit Hut und lässigem Handstock. Er ließ sich sogar verbotene Kräuter in seine Pfeife stecken, vielleicht auch aus Protest gegen Greta, die angefangen hatte, alt zu werden. Nur beten mochte er nicht im Frühnebel, da nahm er lieber an der Karl-Marx-Lesegruppe teil. Wenn er das sagte, »Dann lieber eure Karl-Marx-Gruppe!«, lachte er. Er erzählte seine Geschichten vom Moor, zeigte den jungen Menschen sein Atelier, die Skulpturen, die Gipsmodelle, den Garten und wie er dies alles aufgebaut hatte.
Manchmal stand er da, zeigte mit seinem Stock auf das Haus und sagte: »Das ist mein Leben.«
Paul hielt noch immer den Telefonhörer in der Hand. Er legte auf, nahm das Handy und schrieb Christina am vierten Tag nach seiner Ankunft im Moor:
Ich weiß, dass du meine sms bekommst. In meiner familie sind alle sehr erkrankt. Und dein schweigen ist so kalt. Sitze wieder wie als kind in den zimmern der schneekönigin und erfriere.
Dritter Teil
Zwei Russen steigen mit ins Moor
Georgij, der Mann mit der Tetris-Melodie
Georgij Aleksej Petrov hatte nie daran geglaubt, selbst Maler werden zu können, er war nur Angestellter der St. Petersburger Kunstakademie. Während sein Land zusammenbrach und in kleine reiche und große arme Teile zerfiel, saß er im Sekretariat und verrichtete Verwaltungsarbeiten.
Eine seiner Aufgaben war es, Bewerbungsmappen zu ordnen und abzulegen, die an der Kunstakademie eingegangen waren und die das Gremium der Jury abgelehnt hatte. Er musste Tausende von Absagen schreiben, und oft betrachtete Georgij die Passbilder der Bewerberinnen und schrieb den Schönsten von ihnen in eigener Sache, allerdings immer mit offiziellem Briefkopf und der in Gold gestanzten Zeile: »Russian Academy of Arts - Founded in 1757«. Mit diesem edlen Briefpapier tröstete er die jungen Frauen, machte Hoffnungen und verabredete sich in Cafes. Einige nahm er mit zu sich für einen Nachmittag oder für eine Nacht.
Irgendwann befasste er sich mit den abgelehnten Bewerbungsmappen gründlicher. Er suchte jetzt nicht nur die schönsten Frauen aus, sondern sortierte unter den Abgelehnten die nach seiner Meinung talentiertesten und vielversprechendsten aus. Malerei. Druckgrafik. Zeichnungen. In einer Mappe zum Beispiel fand er lauter Männerköpfe, die so gezeichnet waren, als läge der Betrachter unter ihnen: Männer, mit weit aufgerissenen Augen, fast kindlich offenen Mündern, die halb verzückt und halb erstarrt einen doppeldeutigen Ausdruck hatten. Sehr interessant, sagte sich Georgij, auf jeden Fall modern, und sortierte die Zeichnungen zu den guten von den abgelehnten Mappen.
Er nahm von allen männlichen wie weiblichen Bewerbern die gelungensten und kunstvollsten Zeichnungen und Malereien aus den Mappen und heftete sie in eine neue Mappe um - in seine eigene: die Georgij-Aleksej-Petrov-Mappe. Dazu fugte er ein wohlwollendes Empfehlungsschreiben von Ilja Kabakow an, dem bedeutenden Vertreter der Moskauer Konzeptkunst, das er mühelos fälschte. Und so blieb das Passbild das Einzige in der Petrov-Mappe, was der Wahrheit entsprach; er nahm ein jüngeres Foto, auf dem er noch Haare hatte, mit der Zeit waren ihm diese mehr oder weniger ausgefallen, worüber er oft missmutig und wütend wurde, obwohl ihm die weichen, fast kindlichen Gesichtszüge geblieben waren.
Georgij stellte so viele Mappen zusammen, wie es das Material zuließ. Er ging fast jeden dritten Tag mit einer
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