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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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ins Haus, in die Küche zu Nullkück.
    »Ich muss mal telefonieren«, sagte Paul und nahm den Hörer ab. Während es klingelte, betrachtete er ein vergilbtes Foto aus den Kriegsjahren, das auf dem Schrank für Geschirr und Gläser stand: Hilde und Greta mit Großvater an einem gedeckten Tisch. Man sitzt in der Diele, isst Butterkuchen und im Hintergrund gucken die Kühe interessiert in die Kamera. Marie fehlt.
    »Hier ist Paul«, meldete er sich mit belegter Stimme.
    »Na, so was«, sagte seine Mutter, spürbar überrascht, dass es zur Abwechslung einmal ihr Sohn war, der anrief. »Bist du mit Brüning vorangekommen? Lässt sich das Haus gut stützen?«
    »Wir haben Probleme mit dem Nationalsozialismus«, antwortete er. »Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich in unserem Garten den Reichsbauernführer. Er guckt Großmutter an mit ihrem Kuchentablett, ich meine, wie kann man überhaupt seine eigene Frau mit einem Tablett darstellen?«
    »Was redest du da, wen siehst du?«, fragte sie.
    »Eine erstaunlich große Skulptur, die wohl den deutschen Reichsbauernführer darstellt, den haben wir aus Versehen ausgegraben. Er studierte Viehzucht mit dem Schwerpunkt Vererbungsfragen, lernte früh Adolf Hitler kennen und vielleicht sogar Großvater ... Stand gestern in den Hamme-Nachrichten, dein Vater war Nazi.«
    Es war nur noch ein Knistern in der Leitung. Paul hatte vergessen, wie es war, wenn seine Mutter schwieg und einmal nicht das Gespräch dominierte, sondern im Gegenteil die Sprache verlor.
    »Irgendjemand hat es an die Zeitung gegeben. Warum wurde bei uns nie darüber gesprochen?«, fragte er.
    »Paul ...« - seine Mutter versuchte sich zu fangen - »dein Großvater war Sozialdemokrat, woher willst du wissen, dass es ein Bauern ... was? Führer ...Was ist das überhaupt für ein Wort, ich weiß ja nicht mal, was das ist?«
    »Willy Brandt ist es auf jeden Fall nicht!«, schrie er durch das Telefon, sodass Nullkück schon ganz verängstigt war. »Warum wurde nie darüber gesprochen?«, wiederholte Paul.
    »Wieso soll das von Großvater sein, wer will das beweisen?«, rief seine Mutter zaghafter.
    »Mensch, Johanna!«, er war überrascht, dass er seine Mutter so beim Vornamen anpackte. »Da wird ein Nazidenkmal gefunden, zufällig im Garten eines Bildhauers, der bekannt ist für seine historischen Skulpturen, dann steht auch noch PK am Sockel dran! Von wem soll denn das sonst sein, Paulchens Klapperstorch?«
    »Großvater war immer Sozialdemokrat, das wissen alle da oben im Norden!«, sagte sie.
    Paul wurde immer wütender: »Hör doch mal mit deinem Scheißsozialdemokraten auf! Da oben im Norden! Im Garten steht der Reichsbauernführer!«
    »Was weiß ich, wo der herkommt! Spiel dich nicht so voreilig als Richter auf! Du redest ja wie die Jahns!«, erhob seine Mutter die Stimme, mit der sie wieder die Kontrolle zu übernehmen und alle Widersprüche zu übersprechen beabsichtigte. »Diese Bronzemänner sehen sich oft sehr ähnlich, weil nämlich die Feinheiten im Guss nicht immer zur Geltung kommen. Bronzeköpfe von Karl Marx und Lenin oder Rilke und Ringo Starr kann man gut unterscheiden, aber mit welcher Sicherheit kann man von so einem Bauerndingsführer sprechen, den ein normaler Mensch gar nicht kennt? Es kann auch dieser Reiter von der Olympiade sein, der damals leider abgesackt ist...«
    »Mit Hitlergruß?«, ging Paul dazwischen.
    »Vielleicht hält der Reiter die Zügel hoch«, erklärte sie. »Vielleicht ist es ein ganz gewöhnlicher Bauer, dein Großvater schuf eine Vielzahl unbekannter Bauern ...«
    »Ich habe das geprüft«, unterbrach er seine Mutter, »du kannst dir Bilder im Internet anschauen. Und nenn mir einen vernünftigen Grund, warum man einen unbekannten Bauern vergraben sollte.«
    »Weil er missraten war! Weil der Bauer nicht gelungen war!«, entgegnete sie. »Außerdem hätte doch der Dingsführer sein Denkmal mitgenommen, wenn Großvater es für ihn gemacht hätte, das ist doch logisch!«
    »Was ist logisch?«
    »Alles! Kümmere du dich lieber um die Gegenwart! Die Welt ist voll Leben, warum immer die Toten? Geh mal in der Hamme baden! Unser guter alter Urfluss weckt die Selbstheilungskräfte, du scheinst ja, seit du eine Galerie mit Erfolglosen führst, völlig zu verkrampfen. Das Moorwasser ist durchblutungsfördernd, es saugt Nervöses im Körper ab, die Vergangenheit auch, die Hamme absorbiert, die reinste Entschlackung!«
    Das darf doch wohl nicht wahr sein, dachte Paul, sollte er ihr

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