Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
etwa wieder seine Moorallergie erklären? Er würde ganz bestimmt nicht in abgestorbenen Bleichmoosen und jahrtausendealten Sumpfgräsern und Fischgräten freiwillig baden! Er überlegte, ob er sagen solle, dass er sowieso keine Badehose mithabe, aber wieso sollte er jetzt über eine Badehose sprechen, wo sie dann doch nur erwidern würde, er solle sich nicht so haben und nackt baden, wie sie das früher immer getan hätten? - Er ging einfach nicht darauf ein.
»Der alte Gerken war auch dabei, der hat sich den Fund angeguckt und fast die Hacken zusammengeschlagen vor Rührung! Ein echter Kück, hat er gesagt. Das Beste von Kück im Reichsacker! Im Reichsacker!? Was ist das überhaupt für eine krasse Formulierung? Hast du mal gehört, dass dein Vater bei Dreharbeiten im Moor war? Hier wurde Landvolk in Not gedreht, da hilft der Bauernführer dem Volk beim Graben und ein Maler malt das alles. Ich wette, dein Vater ist da hingegangen, hat sich direkt beim ReichsbauernFührer vorgestellt und gesagt, er wolle ihn in Bronze gießen!«
»Und was sollen wir jetzt bitte tun?«, fragte seine Mutter, zurückgedrängt in ihrem Versuch, den Sohn zu übersprechen.
»Ich weiß nicht«, sagte Paul. »Das ist dein Vater, was habe ich mit dem alten Mist zu tun? In Berlin gibt es einen Blumenhändler, mit dem arbeite ich jeden Morgen die DDR auf. Ich bin schon ein paar Diktaturen weiter.«
Er nahm sich vor, ihr jetzt noch die geforderte Gegenwart um die Ohren zu hauen: »Man kann sich Sorgen machen um die Leute im Kongo. Mich interessiert die Al-Qaida, ich würde gern die arabische Seele verstehen oder mal unserem Amerikabild auf den Grund gehen. Wusstest du, dass die jetzt sogar im Nahen Osten demokratisch wählen wollen? Nur in Worpswede, da ruht alles schön im Reichsacker! Und man hält sechzig Jahre die Klappe! Weißt du was, kümmere du dich um deinen Vater, aber lass mich damit in Ruhe!«
Er bekam sofort ein schlechtes Gewissen, dass er so mit seiner Mutter sprach. Er merkte allein durch ihr Schweigen, wie sehr sie um Fassung rang. »Was sollen wir jetzt bitte tun?« - So etwas hatte sie noch nie gesagt. Sie sprach nicht mehr wie zu einem kleinen Jungen mit ihren Lebensanweisungen, sondern nun war sie plötzlich das Mädchen. Vielleicht, weil ihr Vater überraschenderweise auferstanden war und wieder mächtig vor ihr stand.
»Ich kriege das hier schon irgendwie hin. Glaubst du, das Haus könnte an Wert verlieren wegen dieser Geschichte?«, fragte er.
Seine Mutter schwieg.
»Na ja, Nazis gab es viele«, sagte Paul, »aber man denkt immer, nicht in der eigenen Familie.«
Er sah, während es in der Leitung rauschte, auf die ausgedruckten Bilder. Das letzte war nicht vom Reichsbauernminister, es war ein Foto vom großen Boxmeister Max Schmeling, Nullkück hatte es mit ausgedruckt. Besonders die glatt nach hinten gestrichenen Haare waren beim Boxer und dem Reichsbauernführer ähnlich. Auch die großen, frei geschnittenen Ohren und die starken Augenbrauen schienen geradezu identisch zu sein. Besonders auffällig: diese Übereinstimmung der kleinen Furchen zwischen Oberlippe und Nase. Paul sah in den Garten zur Schmeling-Skulptur, gegenüber von Napoleon und festgebunden an der alten Eiche, wo Nullkück gerade wieder sein Luther-Seil nachspannte. Auch Schmeling hatte einen erhobenen Arm, genau wie der Bauernführer, der eine grüßend, der andere boxend, eine Gerade in die Luft schlagend - aha, dachte Paul, schlauer Nullkück: Natürlich konnte ein 94-jähriger Bauer wie Gerken einen Boxer mit einem Nazi verwechseln!
»Ich weiß nicht, warum es eure große Zeit damals gegeben hat«, sagte er nach einer Weile ins Telefon. »Eine Revolution machen, aber dabei auf dem Schoß des Vaters sitzen ...Was ist denn das für eine Revolution?«
»Wie du über deinen Großvater sprichst«, sagte sie, erstickend leise. »Er hat vielleicht so was in Bronze gegossen, aber keine Menschen umgebracht. Ich rufe später wieder an.«
»Gut. Bis dann«, sagte Paul.
Er stellte sich vor, seine Mutter würde jetzt hilflos wie ein Mädchen dasitzen mit ihrem Vaterbild, das sie so lange rein gehalten und gehütet hatte und das nun verdunkelt und beschädigt war. Wie sehr sie an ihren Vater gebunden war. Und wie sich Paul jetzt selbst an seine Mutter gebunden fühlte, in hilfloser Rührung, auch wenn er seine Revolte eben noch gegen sie gerichtet hatte.
Sie liebte ihren Vater über alles. Paul hatte oft gesehen, wie sein Großvater die einzige
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