Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Herr Ohlrogge, dies ist ein Bürgertelefon, was ist überhaupt das Problem? Vor einer Woche ist am Weyerberg das Haus der Experimentalkünstlerin Henriette Kupferberg in die Luft geflogen, Gasexplosion. Haben Sie das mitbekommen? Jetzt soll ich mit der Versicherung reden und sagen, dass Henriette Kupferberg den Gashahn zugedreht hatte, als sie das Haus verließ. Was weiß denn ich! Der ganze Zirkus mit dem Milchhandel und den Windkraftgegnern und jetzt auch noch Henriette Kupferberg! In den Bäumen hängen noch ihre Möbel. Der ganze Weyerberg bis hin zum Mackensen-Weg ist abgesperrt von der Feuerwehr und gleichzeitig soll ich ein World-Trade-Center vor dem Rathaus genehmigen, du meine Güte ...«
»Herr Kück«, sagte Ohlrogge kraftlos mitten hinein.
»Ich muss jetzt zum Findorff-Verein!«, erklärte der Bürgermeister. »Ich muss da mitsingen zum Todestag. 210 Jahre ist es nun her, dass unser Moorkommissar verstorben ist.«
»Das Denkmal vom Moorkommissar ist auch von Paul Kück, bei dem jetzt der NS-Reichsbauernführer gefunden wurde!«, bäumte sich Ohlrogge auf, noch einmal zu seinem Thema zurückfindend.
»Wir singen Kein schöner Land in dieser Zeit / als hier das unsre weit und breit. Chorleiter Grotheer dirigiert. Wussten Sie, dass Findorff auch die Kirchen in Grasberg und Gnarrenburg gebaut hat?«
»Nein«, sagte Ohlrogge, nunmehr einbrechend, verstört. »Na, wieder was gelernt!«, sagte Kück und beendete das Bürgertelefon, indem er um Punkt zwölf Uhr auflegte.
Die sprechenden Räume, die Ödlandfrauen, und Herr Brüning bereitet die Bohrungen vor
Den Mittagstisch hatte Nullkück wie immer liebevoll hergerichtet mit frischen Rhododendron-Blüten und Buchweizenpfannkuchen mit Bauernschinken. Auf dem Herd neben der Pfanne stand Großmutters Rilketopf.
»Heute Nacht muss der Reichsbauernführer verschwinden«, sagte Paul.
Nullkück nickte.
Nach dem Mittagessen liefen sie durch das Haus und schoben die Möbel von den Wänden weg, die später eingerissen und abgetragen werden sollten, um dort mit den Bohrungen für die Pfahlgründung anzusetzen. Nach den Bohrungen würde man den Beton ins Moor gießen und die nachträgliche Gründung des Hauses durchführen. »So maakt wi dat, denn warrt de Gründung dörfbhrt«, das war Brünings Lieblingsformulierung, Paul konnte es kaum aussprechen, »warrt dörfbhrt«, wahrscheinlich musste man sich dafür flach auf den Boden legen.
»Meine Arbeiter aus Berlin kommen dann morgen«, rief ihm Paul durch den Garten zu.
»Köönt de dor överhaupt arbeiten?«, fragte Brüning, wohl eher scherzhaft. Er selbst würde noch drei weitere Hilfsarbeiter mitbringen, sodass man übermorgen mit den großen Bohrern und dem Beton anrücken könne und dann die Gründung »dörfbhrt«. Mit den Entwässerungen im Garten sei man am Nachmittag fertig, ganz nach Plan und im Kostenrahmen.
Paul und Nullkück standen im alten Elternschlafzimmer vor dem Bettgestell. Der große Spiegel mit dem barocken Goldrand und dem Engel, der einem beim Ankleiden zulächelte, lehnte wie früher an der zartblauen Wand aus Buchenholz. Sie trugen ihn vorsichtig von der Wand weg, dabei verfing sich Paul in dem Band, das sein Vater um den Kopf des Engels zu einer Schlaufe gebunden hatte, in die er seine Krawatten hängte.
Sie betraten das Atelier des Großvaters. Auf dem Schreibtisch aus Mahagoni lag der kantige, abgeschlagene Steinblock, den Pauls Großvater im Garten gefunden hatte und der während der Eiszeit herangespült worden war, als dieses Land noch ein Urstromtal und ein Meer voller Schmelzwasser gewesen war. Zu beiden Seiten des kleinen Findlings standen massive Leuchter mit weißen Kerzen. An der Wand hing der Abrisskalender von 1978: September, der 28. - der Tag, an dem Pauls Großvater gestorben war, zusammen mit dem Papst. Er hatte am Morgen noch den 28. abgerissen und war dann am Nachmittag vor der unvollendeten Skulptur des Bundeskanzlers Helmut Schmidt tot umgefallen.
Paul und Nullkück hoben den Sekretär an, dabei rutschte die Schublade nach vorne. Nullkück nahm eine Medaille mit rotem Band heraus und hängte sie Paul um den Hals.
Große Deutsche Kunstausstellung, München, Juli 1939, 1. Platz
1. Oktober 1978: Das Großvater-Begräbnis (Und wie eine angebliche Medaille von Adolf Hitler im falschen Kück-Grab landet)
Der Sommer hatte sich noch einmal gebührend verabschieden wollen und die Sonne stark und groß über dem Worpsweder Friedhof gestanden.
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