Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
überhaupt?«
»Also, ich heiße Peter Ohlrogge und wollte fragen, was Sie dazu sagen, ich meine zum Fall des anderen Kück. Sie haben die Fakten doch sicherlich ... ?«
»So was lag bei mir nich aufm Tisch.«
»Es stand in den Hamme-Nachrichten, das muss Ihnen doch aufgefallen sein?« Ohlrogge las vor: In der Künstlerkolonie Worpswede wurde bei Grabarbeiten im Garten des 1978 verstorbenen Bildhauers ...
»Soll ich mich hier zu jedem toten Künstler äußern?«, unterbrach ihn der Bürgermeister. »Seit über hundert Jahren wird hier Kunst gemacht. Wenn ich mich da bei jedem fragen würde, was das soll. Mein Tag hat ja auch nur 24 Stunden!«
»Aber er soll Künstler des Jahrhunderts werden, da darf er doch nicht gleichzeitig einen Reichsbauernführer machen?«, bemerkte Ohlrogge.
»Wer KDJ wird, entscheide nicht ich. Da wenden Sie sich bitte an die Tourismus- und Kulturmarketing GmbH, wofür haben wir die denn? Ich kann mich nicht um alles kümmern. Und was ist nun Ihr Bürger-Anliegen?«, fragte der Bürgermeister mit aufkommender Ungeduld in der Stimme.
Ohlrogge überlegte, wie er vorgehen sollte. Er wollte gerade vorschlagen, ob er ihm die Liste mit der »Nordischen Gesellschaft« vorbeibringen dürfe, daraus könne man nämlich ersehen, in welcher Gesellschaft sich der KDJ Kück früher befunden habe, als es plötzlich unvermittelt aus dem Bürgermeister herausschoss:
»Jetzt will ein Künstler vor dem Rathaus ein World-Trade-Center bauen! Riesige Eisengerüste mit schwarzen Puppen, die da runterspringen! Um die Eisendinger kommt Sand rum aus dem Kongobecken. Steht im Antrag! Wenn man zu unserem Rathaus will, soll man durch das Kongobecken, verstehen Sie das? Wir leben hier im Moor. Ich soll aber afrikanische Maler in mein Rathaus hängen, als ob wir in Worpswede nicht genug eigene Maler hätten! Was man hier auf den Tisch bekommt! Wer ist da in New York aus den Fenstern gesprungen, etwa Afrikaner?«
»ICH RUFE AN, WEIL ES IN WORPSWEDE NAZIS GAB!«, sagte Ohlrogge ganz direkt.
»Wo nich, wo denn wohl nich ... Ich führe gerade Gespräche zwischen dem Milchhandel in Osterholz und den Molkereien in Worpswede«, erklärte der Bürgermeister. »Wenn das so weitergeht, können wir bald nicht mal mehr Sahne in den Kaffee kippen! Kümmern Sie sich lieber um die Gegenwart, wir brauchen endlich Unterstützung aus Brüssel! Und nun noch was zum Thema Umweltpolitik. Da regen wir einen Windpark in Heudorf an, ist doch besser als Atomstrom, aber was sagte mir eben eine Anruferin? Das stört die Rastvögel, Herr Kück! Was soll ich dazu sagen? Aber wir können auch über Kunst reden, über Kunst, Herr ... Herr ...«
»Ohlrogge ...«, ergänzte Ohlrogge selbst, er war wie getroffen durch den Satz, er möge sich lieber um die Gegenwart kümmern. Über dreißig Jahre hatte er sich an Worpswede abgekämpft. Sich duelliert. Verwundet. Wie ein Irrer alles zugegüllt. Gezahlt und gebüßt. Den Ort mit seiner Liste vollgetackert. Sogar aus Verzweiflung nicht mehr leben wollen. Johanna, ihr Vater, dann die Galerie, die Worpsweder Gesellschaft, sie alle hatten ihn von seinem Lebensweg abgebracht, von einem Leben in Anerkennung, mit Erfolg, Geld, Kindern, ja, mit kleinen Kinderschuhen in seinen Händen - und nun, als er darauf aufmerksam machen wollte, dass einer in Worpswede Künstler des Jahrhunderts wurde, obwohl er einen Reichsbauernführer im Garten hatte, da sagte der Bürgermeister, der auch noch Kück hieß, er solle sich lieber um die Gegenwart kümmern? Ohlrogge war den Tränen nahe.
»Sind Sie etwa auch Künstler bei uns?«
»Nein. Ich besitze nur Paulas Emanzipationshaus«, sagte er leise.
»Die einen, die kommen mir mit ihrem Glockenspiel, das überall im Dorf erklingen muss«, fuhr der Bürgermeister fort, »die anderen legen Anträge mit Bodypainting vor, Bodypainting, Herr Ohlrogge! Am schlimmsten sind diese Malerinnen über 50, die wie Paula durch die Gegend laufen! Überall laufen hier Paulas rum und sitzen vor meinem Dienstzimmer mit ihren Anträgen. Eine Bürgerin, natürlich Malerin, hat mich gerade angerufen: Herr Kück, man kann doch keine Windkrafträder ins Moor stellen, wie sollen da in Zukunft unsere Bilder aussehen? - Na, dann ist endlich mal was Neues drauf!, hätte ich am liebsten gesagt. Die Milchpreise bedrücken mich. Warum bin ich nicht Bürgermeister in New York geworden? Da gibt es wenigstens noch ein paar normale Leute. Ich regiere lieber Schwarze und Weiße als Künstler und Bauern!
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