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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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rannte er, sich das spärliche Haar ordnend, auf die Tür zu.
     

Ohlrogge in der Worpsweder Loslassgruppe
    Mit Therapie hatte es Ohlrogge schon die letzten zwanzig Jahre versucht. Wenn er das Gefühl hatte, sein Leben würde auf der Stelle stehen und die Vergangenheit wieder die Macht übernehmen, dann besorgte er sich eine Überweisung und meldete sich zu einigen Sitzungen an.
    Die alte Therapeutin, die ihn auch mit Klangmassage und Bachblüten behandelt hatte, war mittlerweile gestorben, aber es gab eine neue in Worpswede, Beatrice Bender. Sie war wesentlich jünger als Ohlrogge und arbeitete in Gruppen nach der Methode von Moreno, bei der die Kontaktfähigkeit und das Sichgewahrwerden durch die anderen verbessert werden sollten. Man war auch aufgefordert, die Probleme des anderen nachzuempfinden und sogenannte »Nachklänge« zu schaffen, »Hilfstherapeut« zu werden. Morenos Methode sah ebenfalls vor, dass man die Rollen der anderen Gruppenmitglieder spielte, damit diese sich wie in einem Spiegel erkannten. Sogar in die Rollen von Menschen, mit denen man im Leben Konflikte hatte, sollte man sich hineinversetzen.
    Ohlrogge war zum ersten Mal vor drei Wochen in die Gruppe gegangen. Seine Hauptaufgabe hatte darin bestanden, einen liebenden Vater zu spielen, der seine erwachsene Tochter nicht loslassen wollte und auf jeden fremden Mann einschlug, der sich ihr näherte. Die Sitzungen danach hatte er ausfallen lassen, aber jetzt, nach dem niederschmetternden Telefonat mit dem Bürgermeister, ging er wieder in die Gruppe.
    Man saß zu viert im Kreis. Frau Bender trug ein farbenfrohes Kostüm, sie hatte dunkelroten Lippenstift aufgetragen und ihre schwarzen Haare nach hinten zu einem festen Zopf gebunden, was ihr eine gewisse Strenge verlieh.
    Gustav Hügel, circa 50, trug ein helles Leinenjackett mit Halstuch, hatte etwas rötliche Augen und war zuerst dran.
    Gustav konnte nicht verstehen, warum ihm die Anerkennung als Künstler versagt blieb, wo er doch seiner Meinung nach die besten Ideen hatte. Für einen Malwettbewerb der Volksbank Osterholz-Scharmbeck zum Thema »Wolken, Wind und Weite« hatte er im vorigen Jahr einen großen Bilderrahmen in die Worpsweder Flussniederung gehängt, die alle berühmten Maler von Mackensen bis Paula Modersohn-Becker inspiriert hatte und die besonders geeignet war, die Weite des Himmels einzuhängen. Der Titel seiner Bewerbung lautete »Besser geht's nicht«. Er forderte die Volksbank in einem Begleitschreiben auf, in die berühmte Worpsweder Flussniederung zu kommen und durch den Rahmen hindurchzusehen, doch die Bewerbung wurde abgelehnt. Gemäß den Teilnahmebedingungen musste das Werk eingereicht werden und die Flussniederung konnte man bei der Volksbank nicht einreichen, kurz gesagt, das Kunstwerk sollte zur Bank kommen und nicht umgekehrt.
    Der dritte Therapieteilnehmer saß stumm auf seinem Stuhl und schüttelte ab und zu den Kopf. Daneben saß Ohlrogge mit seiner Kückgeschichte, die in ihm brodelte, und versuchte, sich in Gustav hineinzuversetzen. Auch überlegte er, ob es ein Fehler gewesen war, sich im Vorjahr nicht selbst bei dem Thema beworben zu haben. »Wolken, Wind und Weite«, das war ja gewissermaßen sein Ding.
    Das Thema der Volksbank für den diesjährigen Malwettbewerb lautete »Die Würde des Menschen«, und der 1. Preis war mit 10.000 Euro dotiert. Gustav hatte sich mit einem Bild beworben, auf dem im Grunde genommen schon wieder nichts war. Allerdings hatte er zusätzlich zur weißen Leinwand drei Farbtöpfe eingereicht: einen blauen, einen weißen und einen roten, die Farben der Französischen Revolution, die Farben der Menschlichkeit, wie er das nannte: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Hinter der Leinwand hatte er einen kleinen Mikrochip angebracht, aus dem chinesische, amerikanische und deutsche Stimmen kamen.
    »Warum haben Sie die Farben nicht benutzt?«, fragte Frau Bender.
    »Weil ich beim Betrachter einen Gedankenprozess auslösen wollte. Er sollte sich aufgerufen fühlen, innerlich selbst zum Pinsel zu greifen, um die Würde des Menschen zu malen«, antwortete Gustav, von Wut erfüllt und mit dem negativen Schreiben in der Hand, in dem es hieß, dass seine Arbeit leider nicht berücksichtigt werden könne.
    »Versuchen wir uns mal in die Rolle der Volksbank zu versetzen«, schlug Frau Bender vor. »Die Bank erwartet doch sicherlich ein gemaltes Bild, gerade aus Worpswede? Wie würden Sie reagieren, wenn bei Ihnen jemand ein leeres Bild abgibt

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