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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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sich an den anderen mit der Kuchensäge. »Aus Russland, Ludwig, they all crazy! Big rich, big poor! Poor, rich, beides big! Bella Ballerina, sit hier inside! Not outside, outside is crazy!« Er stürmte ihr schon mit seinem Glas entgegen. »Nastrovje! I am Gustav! Auf Trotzki!«
    Sie lief in die Marcusheide. Über den Osthang vom Weyerberg. Oben in einem Baum sah sie ein dunkelblaues Sofa. In einem anderen Baum hing ein Stuhl wie aus dem Gasthaus am Bahnhof, mit hoher Rückenlehne. Im nächsten Baum flatterte eine Hose.
    Das ist ja sonderbar, dachte Ana, als ob die Menschen hier in den Bäumen lebten. »Barkenhoff« stand unten auf einem Schild mit grünem Pfeil nach links.
    »Barkenhoff«. »Die berühmteste Künstlerkolonie in Deutschland«. »Märchenland«. Da wohnte er. Dieser Mann. Wer war er? Ein russischer Künstler, der ausgerechnet sie eingeladen hatte?
    Seinen seltsam schönen Brief mit goldenem Kopf der Petersburger Akademie hatte sie zu Hause in ihre Schublade gelegt und nicht beantwortet, sie wusste nicht, was das sollte, und so ernst war es ihr mit der Bewerbung nicht. Als Ana mit der Prostitution begann, war das Zeichnen nur eine Flucht. Die Aufgabe, einen Mann zu beobachten und später aus dem Gedächtnis zu zeichnen, legte sie wie einen Schutz zwischen sich und die fremde Nähe. Schwierigkeiten hatte sie mit den Lichtverhältnissen: Schatten, die eine Nase warf; Schatten, die tief auf der Wange ansetzten und doch wieder mit dem Licht verschmolzen. In manchen Hotelzimmern war die Beleuchtung der Nachttischlampen so schummrig, dass Ana Licht und Schatten einfach ignorierte und sich auf den menschlichen Ausdruck konzentrierte. Dabei kamen ihr die Männer vor wie sterbende Kinder. Letztlich zeichnete sie immer das gleiche Motiv: Männer, von unten betrachtet, mit weit aufgerissenen Augen, fast kindlich offenen Mündern, die verzückt und gleichsam in so seltsamer Erstarrung waren, als würde die Lust, wenn sie sich entlud, mit dem Tod bestraft. Und als sie anfing, sich an die fremden Männer zu gewöhnen, hörte sie mit dem Zeichnen auf. Sie suchte das Beste aus und schickte es an die Russische Akademie. Man konnte ja nie wissen, vielleicht war sie begabt. Vermutlich eher nicht und so war es auch. Man sagte ihr ab, doch später kam der seltsam schöne Brief.
    Sie war in Hamburg, als sie die Mail mit der Einladung in das »Märchenland« las. Sie musste nicht lange überlegen. Sie arbeitete hinter dem Hauptbahnhof, am Steindamm, in einer Kellerbar. Das war kein Fitnessstudio mit Restaurant und Cafe, wie man ihr gesagt hatte. Sie arbeitete auch nicht als Rezeptionsfrau oder Kellnerin. Für den Pass und die Reise über Kiew und Budapest nach Deutschland hatte sie 20.000 Rubel gezahlt. Aber doch nicht für diesen schrecklichen Keller und das, was sie dort tat? Da hätte sie in Russland bleiben können, bei ihrer Mutter. Die Kolleginnen aus Polen, Tschechien, Rumänien, Lettland sahen sie jeden Abend feindselig an mit ihren ewig lang angemalten Gesichtern. Die meisten waren schon alt geworden, obwohl Ana nur ein paar Jahre jünger war. Sie war groß, die anderen waren kleiner. Sie war zierlich, die anderen hatten schon Dellen in den Schenkeln und Bäuche, wenn sie nicht ihren Rücken durchstreckten. Außerdem schwitzten die deutschen Männer. In Russland war ihr das nicht aufgefallen, aber hier begann sie nun den Schweiß zu beobachten. Wie die Tropfen größer wurden und irgendwann über den Männerbauch liefen und schließlich auf sie selbst hinuntertropften. Und dann war da dieser Mann, Russe, der nun jeden Abend auftauchte in seinem schwarzen Anzug, sich Geschäftsführer nannte, alle E-Mail-Passwörter der Frauen einsammelte und die Arbeitszeiten festlegte. In Petersburg hatte sich Ana die Männer in den Hotels und Bars aussuchen können, jetzt musste sie jeden nehmen.
    »Ich habe eine Einladung bekommen. Ich fahre morgen ganz früh«, hatte sie zu einer aus der Kellerbar gesagt, die auch aus St. Petersburg kam, und die Mail vorsichtshalber gelöscht.
    Georgij war gerade kurz davor, den Master bei seinem Tetris-Programm zu erlangen, als mitten im letzten herunterfallenden Klötzchen eine Frau im pinkfarbenen Anzug und mit Reisetasche an sein Atelierfenster klopfte. Träumte er? Das kann nicht wahr sein, dachte er. Das war doch die? Die vom Foto! Die Tolle, auf dem Stuhl, die er auch angemailt hatte! Aus St. Petersburg!
    Er sprang auf, ließ seinen Gameboy fallen, was wirklich etwas heißen sollte. Dann

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