Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Werkzeugkasten für die Arbeiten an den Zinnsoldaten.
Paul ging über den knarrenden Zimmerboden und setzte sich vorsichtig auf die Bettkante, sodass die quietschenden Federungen die Musik übertönten, die Nullkücks Lieblingssender Radio Bremen 1 spielte. Bei den Kücks hatte es immer nur einen Sender gegeben, sie hatten ihn nie verstellt: erst Großdeutscher Rundfunk, dann Hansawelle, nun Radio Bremen 1.
Der klobige Computerbildschirm mit dem verdreckten Gehäuse war angeschaltet und stand auf dem Tisch, unter dem Tower und Drucker hervorragten. Auf dem Boden neben dem Drucker befand sich eine seltsam braun-rostige Flasche. Daneben lagen ausgedruckte Seiten mit neuartigen Schubkarren (Vollgummireifen) und mit Nazis (Reichsbauernführer).
Die ganze linke Wand war behängt mit Blättern in Din-A4-Format. Auf einem Blatt stand »daisey-free51, Gnarrenburg«, darunter war eine freundlich ins Zimmer blickende Frau mit lilafarbener Bluse zu sehen. Die Wangen trugen Rouge, ihre Haare waren gefönt wie die Pudel in Ginas Hundestudio im Wedding.
Auf dem nächsten Ausdruck die »naschkatze49« aus Oyten: Sie war von Kopf bis Fuß abgebildet, trug einen gelben Buntfaltenrock und warf ihren Kopf mit dem schütteren Haar und den Restlocken nach hinten. Daneben: »tinchen55« (Neudorf-Hüttendorf), »Dein-Sonnenuntergang« (Schwanewede), »Moorspatz58« (Grasberg), »bin-wieder-da« (Ritterhude), »Die-Kuchenkatze« (Augustendorf), »Cinderella56« (Verden an der Aller) ...
»Was ist das?«, fragte Paul.
»Frauen, Frauen«, antwortete Nullkück.
Paul überlegte, wie er reagieren sollte: einfach Nullkück zuliebe angeregt alle Frauen angucken, ihm zwischendurch Blicke zuwerfen wie unter Männern: mal begeistert die eine bevorzugend, mal die andere gegen die nächste abwägend, um wieder eine neue zu bevorzugen? Oder sollte er eher seinem schon im Heizungsraum unterdrückten Gefühl und den Tränen nachgeben - sowohl über die Einsamkeit, die ihm wieder dieses mächtige und alles sinnlos machende Himmelsblau vermittelte, als auch über die in ihren Buntfaltenröcken, Restlocken und Naschkatzen-Verrenkungen dahinlächelnden Frauen an Nullkücks Wand?
»Ödlandfrauen« schoss ihm durch den Kopf. Die »Odlandfrauen«, von denen sein Vater einmal vor lauter Sehnsucht nach seinen Bergen gesprochen hatte. »Meine Ödlandfrauen« hatte er die Kückfrauen und eigentlich alle Frauen in Worpswede genannt.
»Dieses Land ist gar nicht öde!«, protestierte seine Mutter. »Es ist einfach nur flach und schön«, er könne ja zurück nach Bayern gehen.
»Johanna«, sagte sein Vater, »Johanna«, das war seltsam für Paul, so als sei seine Mutter noch eine andere, »Johanna, ich liebe doch eine Ödlandfrau, ich kann ja nicht nach Bayern.«
Paul erinnerte sich an die »Brüste der Wahrheit«, sein Vater hatte erzählt, er habe in das öde Land kommen müssen, um die »Brüste der Wahrheit« zu finden. Paul hatte sie sich oft im Badezimmer angesehen, mit Ehrfurcht, mit Angst, so als könne man vor diesen Brüsten nie wieder lügen. Erst später war ihm klar geworden, dass sein Vater damit auf eine andere Künstlervereinigung in der Schweiz angespielt hatte, die auf dem »Berg der Wahrheit«, dem Monte Verità in Ascona lebte, einem Berg, der wie eine Brust aussah und wo man die verschiedenen Lebensbereiche in die »Brüste der Wahrheit« aufteilte: Anarchie, Heilanstalt, Ansätze zur sexuellen Revolution, Kunst. In Worpswede war es ähnlich. Man nannte es aber nicht »Die Brüste der Wahrheit«, sondern einfach nur »Die Künstlerkolonie«.
»Und gefällt dir unser Weyerberg?«, fragte Paul.
»51 Meter hoch«, sagte sein Vater, es klang wie ein Vorwurf. Der Weyerberg war der höchste Berg in diesem flachen Land.
Sein Vater hatte bei allem einen Hintersinn. Nichts sagte er einfach so. Paul war sich immer unsicher. Manchmal traute er sich gar nicht zu lachen, weil er glaubte, dass es vielleicht ganz ernst und anders sei.
»Ist der Weyerberg auch ein Berg der Wahrheit?«, fragte er seinen Vater.
»Ja, bestimmt«, antwortete er.
Paul zog ihn mit hinauf und fragte auf dem Berg:
»Liebst du mich? Liebst du meine Mutter?«
Vielleicht spürte er schon, was kommen würde.
»Also, ich bin begeistert!«, sagte Paul zu Nullkück, der das ganze Revier abgesteckt zu haben schien, alle Frauen zwischen 45 und 60 Jahren: Gnarrenburg, Oyten, Neudorf-Hüttendorf, Schrötersdorf, Ostersode, Winkelmoor, Mulsum-Essel ...
»Ich wusste gar
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