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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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nicht, wie viele Singles es in dieser Gegend gibt!«
    Auf Radio Bremen 1 lief gerade »Don't cry for me Argentina«. Nullkück lächelte, griff hinter seinen Computer und rollte eine Regionalkarte der niedersächsischen Tiefebene auf. Er hängte die Karte an einen dafür vorgesehenen Nagel in der Wand, dann legte er die eine Hand waagerecht auf den Rücken und dirigierte mit der anderen von einem rot markierten Punkt auf der Karte zum nächsten, von Otterstein bis hoch nach Vollersode und von Landkreis zu Landkreis, Osterholz-Scharmbeck, Rotenburg-Wümme, Stade.
    »Sag mal, jeder rote Punkt ist eine Frau, oder? Stehst du mit denen allen in Kontakt?«, fragte Paul zunehmend fasziniert.
    Nullkück sah plötzlich aus wie Napoleon vor der Karte seiner besetzten Nord-Gebiete. Vielleicht hatte Paul auch zu lange die blauen Zinnsoldaten betrachtet mit ihren langen Mänteln, aber Nullkück stand jetzt da wie der Schlachtenlenker aus dem Garten und regierte über die norddeutsche Tiefebene und die roten Frauenpunkte.
    Nullkücks Lächeln! Dieses Lächeln, woher kannte er es, dachte Paul. Wo hatte er dieses ganz bestimmte, schöne, halb verlegene und auch stolze Lächeln schon gesehen?
    Nullkück nahm eine Schallplatte von den Scorpions und legte sie auf den Plattenteller, das alte Nordmende-Kombigerät funktionierte noch. Sie hörten jetzt, begleitet von einem erheblichen Kratzen, »Rock you like a Hurricane«.
    Nullkück griff nach der rostigen Flasche unter dem Tisch, schraubte den Verschluss ab und führte sie mit Schwung zum Mund. Danach reichte er sie Paul.
    »Vadders Buddeln«, sagte er.
    »Vadders Buddeln?«, fragte Paul.
    Nullkück nickte.
    Paul probierte. Und nach dem ersten Schluck des Kornbrandes von 1943 glaubte er, er fiele wieder durch die Zeit.
     

Ana in Worpswede (Märchenland mit Möbeln in den Bäumen)
    Ana lief in ihrem pinkfarbenen Trainingsanzug auf den Worpsweder Weyerberg, stellte ihre Reisetasche ab und sah in alle Richtungen. Keine Metro, keine Straßenbahn, ganz zu schweigen von Hotels und Schiffen wie in Hamburg oder St. Petersburg. So ein Dorf hatte sie noch nie gesehen. Wie die einzelnen reetgedeckten Häuser verstreut am Hang lagen, so als würde das Leben mit großen Strohhüten daliegen, sich an den Berg schmiegen und schlafen. Sah so das Märchenland aus?
    In der Ferne war alles flach. Ana sah Flussläufe und Wiesen mit einzelnen Bäumen und mit schwarz-weißen Kühen, die am Ende in einen blaugrauen Himmel liefen. So hatte sie sich die Steppe vorgestellt, tartarische Horden, die nur mit dem Vieh lebten.
    Ana hatte sich sogar überlegen gefühlt, als sie am Vormittag im kleinen Dorf angekommen war und die Menschen aus dem Bahnhofsgasthaus zu ihr herüberblickten. Sie schlug die Tür vom Moor-Express zu, der aus einem einzigen Waggon bestand, und musste nicht mehr als fünf Schritte zurücklegen, um in das Bahnhofsgasthaus zu treten. Es sah aus wie in einem alten russischen Theaterstück. Die Menschen saßen zwischen ausgewählten Möbeln herum, tranken, guckten herüber und der einzige Unterschied bestand darin, dass in einem russischen Stück auch etwas gesprochen wurde.
    Das Bahnhofsgasthaus hatte wirklich ausgesehen wie ein Bühnenbild, dachte Ana. Ein Raum mit weiß-gelben Wänden, überall Teekannen, Tassen und vereinzelt ein paar Menschen auf sehr besonderen Stühlen sitzend, alle stumm und sich mit Stofftaschentüchern die Nase putzend - so oft hatte sie noch nie Menschen sich die Nase putzen sehen.
    Ana lief an alten Bauernhöfen vorbei auf einer ansteigenden Straße mit Kopfsteinpflaster. Sie hatte es aufgegeben, sich nach einem Taxi umzusehen, es gab keine. Dafür gab es überall Schilder mit KAFFEE UND KUCHEN / GENIESSEN SIE BEI UNS KAFFEE UND KUCHEN / HIER KAFFEE UND KUCHEN / KUCHEN! KUCHEN! KUCHEN! In einem Café, das sich Central nannte, fragte sie nach dem Weg.
    »Oh, do you have a Stipendium in the Barkenhoff?«, erkundigte sich der bärtige Kellner, der gerade einen Kuchen mit einer automatischen Säge zerteilte. »I am a painter. Once I was in the Barkenhoff, it's nice«, er war ganz aufgeregt und sah an ihren pinkfarbenen Beinen rauf und runter. »And you? Which section?«
    Bislang hatte sie jedem Mann ihre »section« verraten, aber in diesem Land, in dem sie immer noch auf etwas Neues hoffte, sagte sie lieber nichts. Nur »Danke« und »Petersburg«, nachdem ein Herr von der Bar aufgesprungen war und fragte, woher sie denn komme.
    »Petersburg? Russia!«, der Mann wandte

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